Theater: Ein Fest der Präsenz

Nr. 12 –

Ein angestaubtes Drama in die Aktualität geholt: Wie das Theater Hora und Regisseurin Helgard Haug Brecht inszenieren, ist grossartig.

Bühnenfoto des Theaterstück «Der kaukasische Kreidekreis»
Magd und Gräfin streiten sich um das Kind. Aber würden sie das auch tun, wenn dieses kein gesundes wäre? Foto: Monika Rittershaus

Wem gehört das Kind: der Gräfin, die es geboren hat, oder der Magd, die es aufgezogen hat? In Brechts Drama «Der kaukasische Kreidekreis» stehen die zwei Frauen vor Gericht, und beide erheben Anspruch. Eine Prüfung soll den Streit entscheiden: Um das Kind wird ein Kreis gezeichnet, die Frauen fassen je eine Hand des Kindes. «Die richtige Mutter wird die Kraft haben, das Kind aus dem Kreis zu sich zu ziehen», so der Richter. Doch ist eine Mutter, die dem Kind solche Gewalt antut, wirklich eine gute Mutter? Bei Brecht ist der Ausgang vorhersehbar: Die biologische Mutter – eine herzlose Frau, der es nur um Erbschaftsfragen geht – zieht mit vollen Kräften, ohne Rücksicht auf das Kind. Die Magd aber lässt das Kind los: «Soll ich’s zerreissen?» Der Richter besinnt sich, er gibt der Magd recht. Ihr Verhalten beweist, dass sie das Kind auf die richtige Art liebt: nicht als Besitz, sondern als etwas, das umsorgt werden muss. Die Kinder, so heisst es am Ende des Stücks, sollen «den Mütterlichen» gehören, «damit sie gedeihen».

Soldat Simon als Mutter?

Doch was heisst «mütterlich»? Und gibt es auch mütterlicher, mütterlicherer, am mütterlichsten? Was in Brechts holzschnittartiger Parabel eindeutig erscheint, wird in der Inszenierung mit dem Theater Hora, die an den Salzburger Festspielen Premiere hatte und zuletzt in Winterthur gespielt wurde, zum zentralen Problem. Warum eigentlich kommen nur die zwei stereotypen Frauenfiguren als Mütter infrage? Was ist mit dem Soldaten Simon? Was ist mit dem Richter? Wo wäre das Kind tatsächlich am besten aufgehoben? Und was wäre, wenn es kein «gesundes Kind» wäre, wie es bei Brecht explizit heisst, sondern ein krankes? Hätte die Magd sich dann auch gekümmert?

Seit über zehn Jahren steht die 1993 gegründete Theatergruppe Hora mit ihren Inszenierungen auf den grossen deutschsprachigen Theaterbühnen. Und immer wieder gelingt dem Ensemble das Kunststück, kognitive Beeinträchtigung als gesellschaftspolitisches Thema zu thematisieren, indem sich seine Mitglieder als Betroffene auf der Bühne zeigen, niemals aber entblössen. Was sie nun unter der Regie von Helgard Haug (Rimini Protokoll) aus dem angestaubten Drama von Brecht gemacht haben, ist umwerfend – formal und inhaltlich.

Haug hat die Vorlage einer gründlichen Revision unterzogen und die Textpassagen auf ein Minimum reduziert. Erzählt wird die Geschichte durch ein raffiniertes Zusammenspiel von unterschiedlichen Elementen, sodass Theater – wie so oft bei Rimini Protokoll – als multimediales Ereignis erlebbar wird: Die Schauspieler:innen bewegen sich mit anmutigen, eloquenten Körpern durch ein wandelbares Bühnenbild, kommunizieren mit Videoaufnahmen, die über verschiedene Screens eingespielt werden, produzieren mit Mikrofonen hörspielartige Geräuschkulissen und treten immer wieder in Kontakt mit dem Publikum. Direkt, witzig und pointiert erklären sie ihre Figuren und warum sie sich für ihre Rollen entschieden haben. Haben die Figuren etwas mit ihnen zu tun? Wären sie selber gerne Eltern?

Ein besonderer Genuss ist das Zusammenspiel von Theater und Musik. Die Schlagzeugerin, die nicht Teil der Theatergruppe Hora ist, zaubert üppige Klanglandschaften oder kommentiert durch minimalistische Einsätze das Geschehen. Mal ist sie im Hintergrund, mal wird sie selber zur Figur und tritt in Dialog mit den anderen, mal gibt sie Auskunft über Rollenwahl und Kinderwunsch.

Verschnaufpause im Theater

Doch nicht nur die Musikerin wird in die Geschichte eingebunden. Auch das Publikum muss sich der «Prüfung» stellen. Inmitten des Stücks verschiebt sich das Geschehen in den Publikumsraum: Das Licht geht an, es werden Bücher verteilt, und das Publikum bekommt Zeit, um zu lesen, bis es auf der Bühne weitergeht.

Das schmale, gebundene Büchlein enthält kurze, sehr persönliche Geschichten der Darsteller:innen. Der Fokus liegt auch hier auf «Familie»: Eltern, Geschwister, die Kindheit und die eigenen Gedanken und Wünsche in Bezug auf Familienplanung werden thematisiert, Fotos aus dem Familienalbum gezeigt. Viele Geschichten handeln von Verlust: von verstorbenen Eltern und Geschwistern, von Krankheiten, Unfällen, Behinderungen.

Die Zuschauer:innen, die bisher die Perspektive des Richters einnehmen konnten, finden sich in einer anderen Rolle wieder. Nun werden sie selber geprüft. Die Prüfungsfrage heisst allerdings nicht nur: Bist du mütterlich genug, um dich um ein Kind zu kümmern (auch wenn es krank ist)? Die Frage heisst jetzt auch: Wer hat sich um dich gekümmert? Oder auch: Wer kümmert sich um dich, wer wird sich um dich kümmern? So bietet diese Prüfung Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungen und erinnert daran, dass Verletzlichkeit eine menschliche Grunderfahrung ist.

Am Ausgang muss das Büchlein wieder abgegeben werden. Das ist wichtig und wird beim Verteilen betont: «Ihr dürft es nicht mitnehmen. Wir erzählen das nur euch, weil ihr heute hier seid.» Denn der Akt des stillen Lesens ist Teil der Inszenierung. Wir lesen in Anwesenheit der Darsteller:innen. Gerade durch die Überschreitung der Theaterform entsteht eine Situation, die es so nur im Theater gibt: eine zeitlich begrenzte Begegnung, die auch eine Begegnung der Körper ist. Denn das ist das grosse Potenzial von Theater: Es ist immer auch ein Fest der Präsenz, in der wir uns gemeinsam als verletzliche, aber auch als lebendige und geniessende Wesen erkennen.

Derzeit keine weiteren Daten, die Wiederaufnahme ist geplant. www.hora.ch