Annemarie Pieper (1941–2024): Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen

Nr. 14 –

Philosophieprofessorin, Moderatorin und feministische ­ Wegbereiterin: Die vor kurzem verstorbene Annemarie Pieper prägte eine ganze Generation von Student:innen.

Portraitfoto von Annemarie Pieper, 2017
Wie lässt sich patriarchales Denken auf ein gemeinsames Menschliches hin überwinden? Annemarie Pieper (hier 2017) suchte Antworten. Foto: Eleni Kougionis

Annemarie Pieper kam 1981 vierzigjährig als erste Philosophieprofessorin an die Universität Basel. Sie unterrichtete Philosophie in einer akademischen Männerwelt anfänglich als geschlechtsneutrale Wissenschaft. «Die Vernunft hat kein Geschlecht», konstatierte sie noch in den frühen achtziger Jahren im Seminar gegenüber aufmüpfigen feministischen Studentinnen. Das Absehen von allem Geschlechtlichen im abstrakten Raum des Denkens war ihr Angebot an sie, sich in den patriarchalen akademischen Strukturen zu behaupten und in der männlich geprägten Philosophie einen Platz zu finden – gerade weil die Vernunft kein Geschlecht habe.

Dieses Angebot funktionierte, weil Annemarie Pieper ihre Studentinnen tatsächlich genauso ernst nahm wie die Studenten (während sie selbst, wie sie später bemerkte, wohl wegen ihres Geschlechts in den 1970er Jahren während beinahe zehn Jahren nicht auf eine Professur berufen wurde). Sie unterstützte Studentinnen auf allen universitären Ebenen, von der Hilfsassistenz bis zur Habilitation. Auch wir verdanken Annemarie Pieper sehr viel auf unserem Weg in die akademische Philosophie.

Misogyne Erfahrungen an der Uni

Seit ihrer Promotion 1967 zu Søren Kierkegaard und ihrer Habilitation 1972 zum moralischen Urteil forschte und publizierte Annemarie Pieper schwerpunktmässig zur Existenzphilosophie und zur Ethik. Sie veröffentlichte wichtige Einführungen zu Nietzsche und Camus und leitete die historisch-kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Briefen der Basler Zeit.

Im Verlauf der 1990er Jahre interessierte sich Pieper zunehmend für die Bedeutung der Geschlechterdifferenz für Philosophie und Ethik. Auch sprach sie nun in aller Deutlichkeit über misogyne Erfahrungen an der Universität: Wie sie sich mit einem Professorenkollegen anlegte, der darauf bestand, Prüfungen an der Universität in Militäruniform abzunehmen. Oder wie sie Ärger bekam, weil sie Bluejeans trug und keinen Jupe. Sie blieb bei Hosen, wählte fortan aber unscheinbarere Farben.

Für uns junge Feministinnen waren solche Kämpfe weit weg. Wir trugen unsere Bluejeans mit Selbstverständlichkeit. Und dennoch: Mit Annemarie Pieper sprach eine Frau im Zentrum der akademischen Macht über das Patriarchat, und zwar je länger, je mehr, ohne dabei ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die überwältigende Freiheit, die sie sich herausnahm, eigenständig zu denken, lauthals zu lachen und ihrem Missfallen in aller Deutlichkeit Ausdruck zu verleihen, veränderte die traditionsgesättigten Räumlichkeiten des Philosophischen Seminars am Nadelberg. Auch wenn wir nicht immer direkt an ihre Erfahrungen anknüpfen konnten, machte es ihre Präsenz für uns junge Frauen vorstellbarer, uns ins gestrenge philosophische Gespräch einzumischen – mit unseren Fragen und unseren Perspektiven.

Anfang der neunziger Jahre begann sich Annemarie Pieper explizit mit feministischer Philosophie zu beschäftigen. 1993 erschien «Aufstand des stillgelegten Geschlechts», ihre Einführung in die feministische Ethik, und fünf Jahre später die Monografie «Gibt es eine feministische Ethik?». Die Auseinandersetzung mit dem Feminismus führte sie immer wieder zurück zur Frage, wie sich patriarchales Denken auf ein gemeinsames Menschliches hin überwinden liesse. «Es kann ja nicht darum gehen», schreibt sie im Essay «Der kreis(s)ende Gott der Philosophen», «das ‹Allgemeinmenschliche› einfach als Summe aus der Addition von Männlich und Weiblich aufzufassen, denn das Verbindende ist etwas, das es durch gemeinsame Anstrengungen allererst zu finden, ja zu erfinden gilt.»

Dieses Ansinnen hatte damals keinen leichten Stand. Viele jüngere Feministinnen rangen in den neunziger Jahren mit Judith Butler oder Donna Haraway um eine Radikalisierung feministischer Kritik jenseits der heterosexuellen und binären Geschlechterordnung. Piepers Denken orientierte sich jedoch stärker an differenzfeministischen Ansätzen, insbesondere an Carol Gilligan und Luce Irigaray, und suchte in diesem Rahmen nach einer feministischen Antwort auf das Patriarchat.

Auch an der akademischen Institutionalisierung der Geschlechterforschung beteiligte sich Annemarie Pieper aktiv. Sie amtete als Präsidentin der Kommission, die die Einrichtung eines Instituts für Geschlechterforschung an der Universität Basel in die Wege leiten sollte. Das Zentrum Gender Studies öffnete dann seine Tore im Jahr 2001. Im selben Jahr liess sich Annemarie Pieper im Alter von sechzig Jahren frühzeitig pensionieren.

Alltagsnahe Philosophie

Piepers Schreiben und Denken bewegte sich fortan in Bahnen abseits akademisch-patriarchaler Hierarchien. Sie wurde eine wichtige öffentliche Stimme. Als Verfasserin von Sachbüchern und Romanen, als Moderatorin der «Sternstunde Philosophie» im Schweizer Fernsehen oder als Gesprächspartnerin an zahlreichen Diskussionsanlässen engagierte sie sich dafür, philosophisches Denken alltagsnah, lebendig und verständlich zu vermitteln.

Ihren Nachruf auf die Philosophin Jeanne Hersch aus dem Jahr 2000 beendete Annemarie Pieper mit einem Zitat, das auch ihr eigenes Denken kennzeichnet. Es ist geschlechtsneutral formuliert und steckt doch voller Resonanzen auf die Arbeiten der feministischen Philosophie: «Die Endlichkeit ist Bedingung für Sinn, Sehnsucht, Freiheit.»

Katrin Meyer ist Titularprofessorin für Philosophie an der Universität Basel.

Patricia Purtschert ist Professorin für Geschlechterforschung an der Universität Bern.