Apartheid in der EU?

Am 1. Mai 2004 ist die Slowakei der EU beigetreten. Karl-Markus Gauss hat dort das Volk der Roma besucht und beschreibt entsetzliches Elend und Ausgrenzung.

Karl-Markus Gauss, Herausgeber der Zeitschrift «Literatur und Kritik» in Salzburg, ist als Literaturkritiker und als scharfsichtiger und scharfzüngiger Essayist bekannt. Das Ergebnis seiner Reisen in die Ostslowakei zwischen 2001 und 2003 ist der Bericht über eine ethnologische Forschungsexpedition zum unbekannten, ausgegrenzten Volk der Roma. Das Buch ist aktuell: Erst im Februar haben tausende von Roma gegen die Kürzungen der Sozialleistungen durch die konservative Regierung protestiert, es kam zu Aufruhr und Plünderungen, die Polizei setzte Wasserwerfer und Knüppel ein. Ein Abgeordneter im slowakischen Parlament sagt voraus, dass es zu schlimmeren Konflikten kommen wird.

Der Autor gibt seinem Bericht den Titel «Die Hundeesser von Svinia», und der Verlag hat sich nicht gescheut, eine trostlose Fotografie des Freundes und Reisebegleiters Kurt Kaindl auf den Schutzumschlag zu setzen. Auf einer dreckigen Strasse in einem Slum sind vier zerlumpte Büblein unterwegs, die sich an den Händen halten, ein fünftes zockelt alleine nach.

In der Schweiz sind die Fahrenden die Jenischen. Bis 1971 sind ihre Kinder von der Pro Juventute den Eltern entzogen und in Heime gebracht worden. Ihr Vagantentum galt als Erbkrankheit. Die Kultur der Roma in der Slowakei, heute etwa 800 000 Menschen, sollte von den jeweils herrschenden Staaten mit ihren wechselnden Grenzen zum Verschwinden gebracht werden. Unter den Sowjets wurden alle Roma zu proletarischen Fabrikarbeitern erklärt, mit allen Bürgerrechten ausgestattet, gleichzeitig wurden ihre Familien zerstückelt. Als das Sowjetreich zerbrach, hatten die Roma ihr Handwerk – als Schmiede, Kupferschmiede, Pferdehändler – vergessen und die slowakischen Bauern benötigten ihre Dienste nicht mehr. Die Roma gerieten in das ausweglose Elend eines Bettlervolkes.

Dieses äusserste Elend erzeugt auch Hass bei denen, die weniger elend sind. Sie haben Angst vor den Verfemten. Gleich anfangs erzählt der Autor von einer Szene staatlicher Folter: «Im Städtchen Tornal’a, im Bezirk Revuca, hat ein Polizist namens Ondrej Hudak junior den 51-jährigen Rom Karol Sendrej so schwer verprügelt, dass dieser (...) zum Haus des Bürgermeisters zog, um sich zu beschweren.» Dieser, Ondrej Hudak senior, schlug und trat schliesslich gemeinsam mit seinem Sohn so lange auf den Beschwerdeführer ein, bis er tot war.

Bei seinen Reisen musste Gauss keine politische Grenze überschreiten, eher eine Angstgrenze gegen das Volk der Roma. Dabei ging es ihm nicht um eine Heldentat. Diesem Autor ist es unmöglich, Lebenslügen bestehen zu lassen, die von der böswilligen Unterdrückung einer Vergangenheit herrühren. Darum hat er im Osten Mitteleuropas in Ländern, die einst dem kaiserlichen Österreich gehörten, auch vergessenen Dichtern nachgespürt, zuletzt Karl Emil Franzos. In der Slowakei stösst der Reisende sogleich auf ein weiteres Hindernis. Kein «weisser» Slowake oder Angehöriger eines der anderen Völker, die neben den Roma leben, scheint diese zu kennen. Die Roma sind unsichtbar geworden. Aber der Reisende versteht es zuzuhören, er findet seine Informanten in Kneipen, auf der Strasse. Die eigenen Vorurteile durchschaut er bald, zuerst die Idee, dass er der Einzige oder der Erste ist, der das Volk erforscht. Viele waren vor ihm da, vor allem Frauen: Die französische Architektin Marie Poirot forscht seit Jahren im Ghetto Lunik IX von Koschize (Kaschau). Die Chefredaktorin Christina Magdolenowa versucht, Gräueltaten, die von der Presse über Roma berichtet werden, zu korrigieren. Klara Orgowanowa leitet das Hilfswerk für Roma-Kinder in Bratislava.

Gefahren bedrohen den Forscher. Die grösste Gefahr wäre es, einer Mystifikation zum Opfer zu fallen, die von fast allen geteilt wird: Slowaken, von den Behörden bis zur ärmsten Marktfrau, Madjaren, Ruthenen und die Menschen in den anderen Minderheiten haben die gleiche Überzeugung: Die Roma sind selber schuld an ihrem Elend. Denn sie sind dumm, faul, kriminell und unerziehbar. Es wäre gut, wenn sie alle verschwinden würden. Gauss durchschaut die wahren Verhältnisse. Gründliche Recherchen ergeben nach ungezählten Gesprächen: Wenn die Anwürfe zu stimmen scheinen, sind diese allesamt Symptome, das Ergebnis einer rücksichtslosen Apartheid, der die Roma ausgesetzt waren und heute noch sind. Der Reisende hat grosse und kleinere Roma-Ghettos besucht, bis er in Svinia, im «Herz der Finsternis», angekommen ist, in der Hölle der Hundeesser. Die Apartheid ist hier beinahe lückenlos. Alle Roma leben von der Sozialhilfe. Diese reicht nicht aus. Skrupellose Unternehmer geben ihnen Darlehen, schicken sie in Bettlerscharen in den Westen; den grössten Teil ihrer Beute müssen sie abgeben. Da sie ihre Schulden nie zurückzahlen können, sind sie Schuldsklaven geworden. Die Männer betrachten sich noch immer als Herren des Klans, haben aber keine Macht mehr. Sie fördern – soweit sie können – die zerstörerische Politik der weissen Herren, damit ihnen keines der vielen gezeugten Kinder in eine höhere Bildung und Gesittung entwischt.

Im Innern hat sich das Roma-Volk in drei Kasten strukturiert: erstens die Roma (von ihnen können einige, die Glück haben, sich ausbilden und «normale» Slowaken werden), zweitens die Ciganiks und als unterste die Degesi. Sie leben in immer schmutzigeren Löchern, aus denen sie nie herauskommen werden, in die nie jemand kommt. In Svinia hat man einen Teil des Roma-Dorfes zerstört, der Rest liegt abseits. Der atemberaubende Gestank macht einen Besuch zur Qual. Auch der Elende braucht Menschen, die unter ihm stehen, die Unberührbaren. Sie sind dem Schmutz und Dreck überantwortet. Die kleinen Kinder dort wissen bereits: Wir dürfen nicht mit Roma-Kindern spielen, wir würden sie dreckig machen, für immer. In der wohltätigen Suppenküche bekommen die Kinder der Hundeesser Löffel; sie können nicht wie Kinder der Roma oder der Ciganiks lernen, mit Messern umzugehen. Hundefleisch haben sie wahrscheinlich nie gegessen. Doch gilt der Hund als das unreinste Tier; ihre Klans gelten für immer als unberührbar.

Auch in Svinia trifft Gauss auf Menschen, die nicht anders sind als wir. Manche Frauen haben mitten im Slum zumindest einen Raum, wohnlich und blitzsauber gestaltet. Craig und Martina, junge Freiwillige des «Habitat for Humanity» in Arkansas, sind seit zwei Jahren da. Zusammen mit Hundeessern haben sie Blockhütten gebaut. Einige sind schon bewohnt, und das Leben in ihnen wird organisiert wie in einem Heim. Ein älterer Mann schnitzt kunstvolle Werke aus Holz. Es gibt Musiker und Sänger.

In Indien ist die Kaste der Paria, der Unberührbaren, fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer das Problem des Subkontinents. In Südafrika wurde die Apartheid von einer Polizeimacht und von Interessen des in- und ausländischen Kapitals aufrechterhalten. In der Slowakei würde es genügen, den Roma für ein bis zwei Generationen Bildung und Arbeit zu verschaffen. Es wäre kein Bischof Tutu und kein Nelson Mandela nötig, um die «Hundeesser» zu gleichgestellten Europäern zu machen. Es wäre nicht schwer, die öffentliche Meinung gegen den abscheulichen Rassismus der weissen MitbürgerInnen aufzubringen und die Opfer zu befreien.

Doch hat die neue Bürgermeisterin von Svinia bereits eine Delegation von Geschäftemachern aus der EU eingeladen. Werden sie die Wohnstätten von Svinia schleifen lassen und die Einwohner vertreiben, um ein Billiglohnunternehmen zu starten? Noch nie ist einem Roma der Besitz seines Wohnhauses amtlich anerkannt oder der Boden, auf dem er seine Hütte errichtet hat, im Grundbuch zu Eigen gegeben worden.

Wer von der Kunst des Erzählers bezaubert ist, wird nicht daran zweifeln, dass die Degesi einer menschenwürdigen Zukunft entgegengehen. Aber Gauss kann nicht schweigen, wenn er sieht, dass wieder eine Kultur vom Untergang bedroht ist. Er will keine Illusion aufkommen lassen. Er weiss, dass an der neuen Aussengrenze Europas gegen die Ukraine eine politische Grenze entstehen wird, die von beiden Nachbarn streng bewacht wird. Und das Volk der Ruthenen (etwa gleich viele Menschen wie die slowakischen Roma) wird hinter die Grenzpfähle gebannt und muss hilflos der Zerstörung seiner Kultur entgegenbangen.

Karl-Markus Gauss: Die Hundeesser von Svinia. Zsolnay Verlag. Wien 2004. 115 Seiten. Fr. 21.90