Wissenschaftsstandorte (5): Alma Mater mit Hörsaal im Cyberland

Bietet das Internet die ultimative Antwort auf die knapper werdenden Betreuungs- und Raumverhältnisse an den Hochschulen? Die Versprechen des E-Learning sind gross.

Wer sich einen Überblick über die internetgestützten Bildungsangebote der Schweizer Hochschulen und Universitäten – den virtuellen Campus also – verschaffen will, stösst auf ein munteres Gewusel von Projekten und Initiativen. Da spriesst der Fernkurs für Spanisch neben dem Online-Einführungskurs in die Kunstgeschichte, und die Website zur Vorlesung über künstliche Intelligenz, die live aus Tokio übertragen wird, ist nur einen Klick vom Lehrgang «Corporate Finance» entfernt. Von simplen Frage-Antwort-Lernübungen bis zu komplexen - international vernetzten und mit dem letzten Schrei der Kommunikationstechnologie versehenen – interaktiven Lernumgebungen (neudeutsch: Environments) reicht das helvetische Spektrum des E-Learning.

Dass höhere Bildungsanstalten mit den Möglichkeiten der multimedialen Vernetzung adäquat umzugehen wissen, würde man aufgrund der historischen Entwicklung des Internets und seiner Vorläufer eigentlich erwarten, gehörten doch Universitäten und Hochschulen zu den ersten öffentlichen Einrichtungen, deren Rechner untereinander vernetzt waren. Lange vor E-Learning und virtuellen Unis tauschte man auf elektronischem Weg Daten aus oder benützte Bibliothekskataloge. Doch der eigentliche Schub für (global) vernetzte Lernformen erfolgte trotz den vergleichsweise komfortablen technischen Voraussetzungen erst mit der Einführung des WWW-Standards, also der grafischen BenutzerInnenoberfläche des Internets zu Beginn der neunziger Jahre.

Alsbald wurde die junge E-Learning-Branche vom Sog der New Economy ergriffen. Aus dem Boden gestampfte Klitschen verbrannten Risikokapital in Millionenhöhe, indem sie munter alten Wein in neue Internetschläuche abfüllten. Wie alle andern überbewerteten Geschäftsmodelle kollabierte auch der E-Learning-Markt zu Beginn des neuen Jahrtausends. Der akademische Betrieb kam mit einem blauen Auge davon, musste aber in der Folge mit dem Imageschaden kämpfen, den internetgestützte Lernformen nach den Boomjahren erlitten hatten.

Neue Lernformen

Fortan ging es gemächlicher zu und her. Die Schweiz überlebte den E-Learning Hype relativ unbeschadet, da die Richtungsentscheide frühzeitig und unabhängig von der überhitzten Konjunktur der Internetwirtschaft gefällt wurden. Nachdem die Schweizer Universitäten die ersten unkoordinierten Gehversuche mit E-Learning unternommen hatten, sorgte 1998 die bundesrätliche «Botschaft Förderung von Bildung, Forschung und Technologie in den Jahren 2000- 2003» für den entscheidenden Impuls.

Dreissig Millionen Franken stellte der Bund für den Aufbau eines Virtuellen Campus Schweiz bereit. Mit dem Geld wurden Projekte einzelner Universitäten unterstützt, die «Wissensvermittlung unabhängig von Ort und Zeit» ermöglichen sowie die Vernetzung unter Bildungs- und Forschungsinstitutionen fördern. Insgesamt erhielten fünfzig E-Learning-Initiativen von Fachhochschulen, Universitäten und den beiden Eidgenössisch Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne Bundesgelder. Jeweils die Hälfte der Projektkosten trägt die Institution. Gemäss den Zielvorstellungen von Swiss Virtual Campus sollten dereinst die Universitäten ihre E-Learning-Angebote selbst finanzieren. Noch bis 2007 ist die Finanzierung durch die Eidgenossenschaft gesichert. In dieser zweiten Phase geht es um die Konsolidierung und die Integration der neuen Lehr- und Lernformen in die Curricula. Während auf Bundesebene der Mittelfluss gesichert ist, sieht es bei einzelnen Universitäten weniger komfortabel aus. So hat die Uni Zürich das Budget für die E-Learning-Fachstelle per 2004 um die Hälfte auf jährlich drei Millionen Franken gekürzt.

Finanzengpässe hin oder her, der Druck, neue Lernformen einzusetzen, nimmt stetig zu. Eine der Triebfedern ist der europäische Harmonisierungsprozess im Hochschulwesen, die so genannte Bologna-Reform mit dem Anrechnungspunktesystem (Ects). Eine Folge von «Bologna» ist auch die Forderung nach einheitlichen Qualitätsstandards zur Bewertung von E-Learning-Angeboten.

Doch was finanziert der Bund genau? Eine der ältesten E-Learning-Umgebungen im Rahmen des Virtuellen Campus Schweiz ist der Online-Lehrgang «Corporate Finance», den die Uni Zürich seit bald vier Jahren anbietet. Die Hauptmotivation, einen Teil des Unterrichts in den Cyberspace zu verlegen, war hier der Anstieg der Studierendenzahl bei gleich bleibenden räumlichen Verhältnissen. An die Stelle der Massenvorlesung im überfüllten Hörsaal trat eine Kombination verschiedener Lernmethoden, wobei multimediale und internetgestützte Komponenten den Hauptteil ausmachen. Neben dem orts- und zeitungebundenen Fernstudium finden weiterhin Veranstaltungen mit den Dozierenden statt, damit diese den persönlichen Kontakt mit den Studierenden pflegen können. Ein weiteres nicht elektronisches Element ist ein Lehrbuch, das speziell den Bedürfnissen des Lehrgangs angepasst ist. Bei E-Learning geht es also nicht um eine komplette Abwendung von bisherigen Lehr- und Lernstrukturen. Vielmehr sollen Alt und Neu kombiniert und ineinander verwoben werden. Solchen hybriden oder gemischten Formen – im Fachjargon auch Blended Learning genannt – wird gemäss aktuellen Evaluationen zum virtuellen Campus das grösste Zukunftspotenzial attestiert.

Wunsch und Realität

Von E-Learning erhofft sich nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung positive Impulse. Doch davon, dass E-Learning etwa Dozierende entlastet, kann noch kaum die Rede sein, weil es derzeit einen personellen und finanziellen Mehraufwand erfordert. Ausserdem gibt es wenig verlässliche Evaluationen von E-Learning im universitären Bereich. Vorderhand bleibt der Bildungs- und Forschungsstandort Cyberspace noch Pionierland.

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