Parabel an der Algarve

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Filmstill aus «Le vent qui siffle dans les grues»: ein Paar hält sich an den Händen

Es beginnt als eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte an der portugiesischen Algarveküste. Nur dass die Gegensätze in «Le vent qui siffle dans les grues» nicht durch blosse Feindschaft begründet sind, sondern durch die sozialen Realitäten der späten neunziger Jahre. Milene (Rita Cabaço) ist der ungeliebte Spross eines reichen, weissen Fabrikbesitzerclans, auf Antonio (Milton Lopes) ruhen die Hoffnungen seiner proletarischen kapverdischen Schwarzen Grossfamilie. Beide kommen sie aus Häusern, denen Matriarchinnen vorstehen. Im Fall von Milene ist die Grossmutter gerade gestorben, nun verteidigt die junge Frau störrisch ihr Andenken gegen die Pläne ihrer Onkel und Tanten, die das Erbe zu Geld machen wollen. Als sie Antonios Grossmutter besucht, weil sie um deren Verbindung zu ihrer eigenen Grossmutter weiss, löst Milene etwas aus, was sie selbst nicht steuern kann.

Der erste Film von Jeanne Waltz seit siebzehn Jahren (Schweizer Filmpreis für «Pas douce») beruht auf einem Roman von Lídia Jorge. Ungewöhnlich und eigen wird ihre Adaption vor allem durch die Hauptfigur: Milene leidet unter einer leichten geistigen Behinderung – wobei «leidet» der falsche Ausdruck ist, denn wenn sie manchmal das grosse Ganze nicht begreift, verleiht ihr das eine Besonderheit, die sie in couragiertes Auftreten für die eigenen Belange verwandelt. Lebenslustig ist Milene auch, weshalb sie auf das vorsichtige Werben von Antonio gar nicht schüchtern eingeht. Um das Paar herum spitzen sich derweil die postkolonialen Gegensätze zu. Zu einer Tragödie wie bei Shakespeare kommt es nicht, aber Rassismus und Klassenprivilegien fordern ihren Tribut.

Jeanne Waltz legt ihren Film als leicht ins Surreale verfremdete Parabel an, mit Figuren, die ihre Rätsel bewahren, und einem Schauplatz, der Umbruch signalisiert, zwischen Gründerzeitvilla, Lehmhütten und Neubauten. Mit Milene rückt sie eine Heldin ins Zentrum, die die herkömmlichen Erwartungen unterläuft –  und dann mit der Stärke verblüfft, mit der sie sich dem Opferstatus entzieht. 

«Le vent qui siffle dans les grues». Regie: Jeanne Waltz. In: Solothurn, Landhaus, Sa, 20. Januar 2024, 20.30 Uhr, und Reithalle, Di, 23. Januar 2024, 17.15 Uhr.