Wo steht das schönste Kino? Sechzehn Fragen an Mehdi Sahebi, Regisseur von «Gefangene des Schicksals».

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Portraitfoto von Mehdi Sahebi
«Ich erinnere mich nicht, dass ich meinen Beruf als Filmemacher jemals verflucht hätte»: Mehdi Sahebi.

WOZ: Mehdi Sahebi, was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, die mit Kino zu tun hat?

Mehdi Sahebi: In der ersten Klasse der Primarschule im Iran zeigte man uns einen Dokumentarfilm über den Walfang in Japan. Eine sehr brutale Angelegenheit: Die riesigen Tiere wurden auf grossen Schiffen zerschnitten. Das rote Blut war überall, und auch das Meerwasser war vom Blut der Wale rot gefärbt. Es war ein schockierender Anblick, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist.

Der erste Schweizer Film, an den Sie sich erinnern können?

«Reisender Krieger» von Christian Schocher habe ich in den achtziger Jahren gesehen, als ich in die Schweiz kam. In Schwarzweiss gedreht, zeigt er die Kulisse des Landes sehr authentisch: die Autobahnen im Winter, kleine trostlose Ortschaften und graue Einkaufshallen. Noch heute erinnert mich der Film stark an meine ersten Eindrücke in der Schweiz.

Was halten Sie für das ärgerlichste Vorurteil über Schweizer Filme?

Dass Schweizer Filme meist lokale Themen und Aspekte der Schweizer Kultur behandeln und häufig die Schweizer Berge und Natur als Kulisse verwenden. Ich halte nicht viel von diesem Vorurteil. Der Schweizer Film ist heute sehr divers aufgrund der zunehmenden Durchmischung unserer Gesellschaft. Es gibt viele Regisseur:innen mit Migrationshintergrund wie Esen Isik, Güzin Kar, Nicola Bellucci oder Lesia Kordonets, die den Schweizer Film künstlerisch und thematisch bereichern.

Was war der beglückendste Moment bei der Arbeit an «Gefangene des Schicksals», Ihrem neuen Dokumentarfilm?

Ein besonders beglückender Moment war, als einer meiner Hauptprotagonisten, nachdem er aufgrund des negativen Asylentscheids in den Iran zurückgekehrt und dort zu einer langen Haftstrafe verurteilt worden war, es unter grosser Lebensgefahr schaffte, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Es war eine unglaubliche Erleichterung, als er nach über zwei Jahren endlich wieder in der Schweiz und ausser Lebensgefahr war. Wäre er im Iran geblieben, hätte das auch Folgen für meinen Film gehabt, weil ich dann zu seinem Schutz wichtige Aussagen nicht hätte verwenden können.

Wann haben Sie Ihren Beruf zuletzt verflucht, und aus welchem Anlass?

Ich erinnere mich nicht, dass ich meinen Beruf als Filmemacher jemals verflucht hätte. Natürlich gibt es im Entstehungsprozess eines Films zwischendurch Schwierigkeiten. Aber das liegt nicht am Beruf an sich, sondern an den Begleitumständen, die nicht immer ideal sind.

Wovon träumen Sie?

Dass sich die politische Situation im Iran zugunsten der Demokratiebewegung verändert und ein Regimewechsel stattfindet. Ein solcher Wandel wäre nicht nur für den krisengeplagten Nahen Osten von Vorteil, sondern würde auch einen bedeutsamen Schritt in Richtung Weltfrieden darstellen.

Was macht Ihnen Angst?

Was ich am meisten fürchte, ist der mögliche Niedergang demokratischer Institutionen in Europa sowie das Erstarken rechtspopulistischer Kräfte. Diese Entwicklungen beschäftigen mich sehr, und es beunruhigt mich zutiefst, dass Errungenschaften, die Europa geprägt haben, durch den Einfluss rechtsextremer Parteien gefährdet sein könnten. Es ist beängstigend zu beobachten, wie diese Tendenzen in verschiedenen Teilen Europas zunehmen und Anhängerschaften finden.

Von welchem Filmemacher, von welcher Filmemacherin haben Sie am meisten gelernt, sei das persönlich oder aus seinen oder ihren Filmen?

Der Ethnologe, Autor und Filmemacher Michael Oppitz, bei dem ich an der Universität Zürich studiert habe, hat mich nicht nur durch seine präzise Sprache und sein ausgeprägtes Gespür für Ästhetik, sondern vor allem auch durch seine starke Haltung und seinen Charakter inspiriert. Gleiches gilt für den Filmemacher Christoph Schlingensief, den ich im Jahr 2000 kennengelernt habe. Ich hatte die Gelegenheit, seine Theaterarbeit in Zürich als Kameramann zu dokumentieren. Schlingensief war ein Künstler, der politische Themen auf authentische und leidenschaftliche Weise in seine Kunst integrierte – ein wahrer Visionär. Jean Rouchs Filme haben mich ebenfalls sehr inspiriert. Ich bewundere, wie er die Protagonist:innen an der Entstehung seiner Filme teilhaben liess und wie er in seinen Werken die Grenzen zwischen fiktionalem und dokumentarischem Erzählen verschwimmen liess. Der iranische Filmemacher Abbas Kiarostami zählt ebenfalls zu meinen künstlerischen Vorbildern.

Bei welchem Film wären Sie wahnsinnig gerne Assistent auf dem Set gewesen? Warum?

«Barry Lyndon» von Stanley Kubrick, weil ich gern Zeuge seiner präzisen Filmgestaltung gewesen wäre.

Truffaut oder Godard?

Godard.

Drehen Sie lieber digital oder auf Film? Weshalb?

Ich liebe Filmaufnahmen auf Zelluloid. Ihre ästhetische Qualität verleiht einem Film einen Zauber, der mich an die Anfänge des Mediums erinnert.

Ich selbst habe bisher aber immer mit digitaler Technik gearbeitet, da sie kostengünstiger ist und weil man das aufgenommene Material sofort überprüfen kann. Ausserdem ist es für meine Art der dokumentarischen Arbeit sehr wichtig, dass die Drehzeit nicht begrenzt ist und dass ich lange Szenen ohne Unterbrüche drehen kann.

Kinos sind immer auch Pilgerstätten. Wo steht das schönste Kino, das Sie je besucht haben?

In Zürich ist das «Filmpodium» für mich das Kino mit dem schönsten Ambiente.

Welche drei Filme würden Sie für die sprichwörtliche einsame Insel einpacken?

«Barry Lyndon» (1975) von Stanley Kubrick: wegen der akribischen Inszenierung. «Accattone» (1961) von Pier Paolo Pasolini: wegen seines naturalistischen Stils. Und «Close-Up» (1990) von Abbas Kiarostami: wegen der klugen Kombination von Dokumentar- und Spielfilmtechniken sowie seiner einzigartigen narrativen Struktur.

Welches ist Ihr peinlichster Lieblingsfilm? Und warum peinlich?

Kenne ich keinen.

Ein sträflich unterschätzter und/oder vergessener Film, für den Sie hier gerne ein bisschen missionieren würden?

Ein vergessener Film, den ich gerne mehr ins Rampenlicht rücken würde, ist «Memorias del subdesarrollo», ein Essayfilm von Tomás Gutiérrez Alea aus dem Jahr 1968. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Edmundo Desnoes, bietet er eine fesselnde subjektive Perspektive auf die politischen und sozialen Veränderungen in Kuba nach der Revolution von 1959. Ein wahrhaft herausragender Film.

Der wichtigste Rat, den Sie jungen Filmschaffenden mit auf den Weg geben würden?

Bewahrt euch den Mut, frei zu denken und Selbstzensur zu vermeiden. Und bleibt beharrlich.

Mehdi Sahebi

Geboren 1963 im Iran, lebt Mehdi Sahebi seit 1983 in der Schweiz, wo er Ethnologie, Geschichte und Völkerrecht an der Universität Zürich studierte. Sein Dokumentarfilm «Zeit des Abschieds» (2006), das Porträt eines HIV-Patienten im Sterbehospiz, wurde in Locarno ausgezeichnet. Für seinen neusten Film hat Sahebi Geflüchtete aus Afghanistan und dem Iran nach ihrer Ankunft in der Schweiz mehrere Jahre lang begleitet: «Gefangene des Schicksals» («Prisoners of Fate») ist in Solothurn für den Prix de Soleure nominiert.

«Prisoners of Fate» in: Solothurn, Landhaus, 18. Januar 2024, 20.45 Uhr, und Reithalle, 21. Januar 2024, 17.30 Uhr. Ab 14. März 2024 im Kino.

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