WOZ-Podium: Die Rosinen finden

Nr. 41 –

Man war sich einig: Die Kulturteile in den Zeitungen sind langweilig, weil man zu oft dasselbe liest. «Nach Samirs Film ‹Snow White› schrieb eine Zeitung über Koks - danach schrieben alle Zeitungen über Koks. Das nervt», sagte Sabina Brunnschweiler, Redaktorin des St. Galler Kulturmagazins «Saiten». «Saiten» hatte zusammen mit der WOZ am letzten Donnerstagabend in St. Gallen zur Podiumsdiskussion «Die WOZ, die Zentrumskultur, die Kultur der Peripherie» eingeladen. Auf dem Podium sassen neben Sabina Brunnschweiler die Schriftstellerin Ruth Schweikert, der freischaffende Kurator Giovanni Carmine und WOZ-Redaktorin Sina Bühler.

Die Kulturberichterstattung richte sich immer mehr nach Events aus, der Rest interessiere kaum, konstatierte Ruth Schweikert: «Ich las kürzlich zusammen mit der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann Texte von Alice Munro. Die Medien berichteten danach nur über Hermanns Frisur und meine Beinkleidung - sie verloren weder ein Wort über Alice Munro noch eins darüber, was wir zu ihren Texten gesagt hatten.»

Debatten initiieren

Für die WOZ wäre es doch viel spannender, selber Themen zu setzen und Diskussionen anzustossen, als sich nach dem Mainstream zu richten, meinte Schweiker: «Zum Beispiel eine Frage, die mich persönlich beschäftigt: Was ist passiert mit der politischen Literatur?» Solche Debatten zu initiieren sei natürlich nicht einfach, da sich kaum jemand exponieren wolle - «meine Zunft mit eingeschlossen». Ruth Schweikert wünscht sich Buchbesprechungen, die sie sonst nirgends findet. Es sei aber ein schwieriger Job, räumte sie ein: «Ich bin im Radio DRS bei der Sendung ‹52 Beste Bücher› dabei. Ich sollte für eine Lesung etwa zehn Bücher lesen. Für eine Stunde Sendung erhalte ich 400 Franken - da habe ich gesehen, wie schnell Verschleisserscheinungen auftreten und auch ich begonnen habe, ‹professionell› zu lesen.»

Giovanni Carmine brachte den Begriff «Komplizenschaft» ein. Er freue sich, wenn seine Ausstellungen überhaupt in einer Zeitung oder Zeitschrift erwähnt würden, das gehe aber oft nur, wenn man die Schreibenden kenne. Eine echte, ernsthafte Kritik sei sehr selten. Er verfolge als Tessiner seit Jahren die Südschweizer Berichterstattung: «Die Entwicklung dort ist fatal: Die Journalisten übernehmen nur noch die Pressetexte, es gibt gar keine Diskussion mehr.» Mit ihren Geschichten über die Flick-Collection habe die WOZ gezeigt, dass sie Themen setzen könne. Und zwar in einem schwierigen Bereich, da sich viele Kunstschaffende dazu nicht äussern wollten, weil sie von Flick abhängig seien. Im Übrigen wäre er ganz froh, meinte Carmine, wenn ihm die WOZ - im Sinne einer Dienstleistung - das Kulturförderungsgesetz erläutern würde: «Was ist gut daran, was schlecht.»

Die Chance des Kleinräumigen

Leider interessierten sich viele Kulturschaffende überhaupt nicht für Kulturpolitik, warf WOZ-Redaktorin Sina Bühler ein. Selbstverständlich wünsche man sich einen möglichst breiten, qualitativ hochstehenden Kulturteil mit vielen spannenden Debatten, die Akzente setzten: «Doch das ist Theorie, die Praxis sieht oft anders aus. Das enorme Kulturangebot wirkt überfordernd. Eigentlich müsste eine Zeitung, die wie die WOZ die gesamte Deutschschweiz abdecken möchte, eine riesige Kulturredaktion haben, um in allen Sparten auf höchstem Niveau dabei sein zu können.»

«Saiten» scheint mit diesen Problemen nicht zu kämpfen. «Wir wissen, was unsere LeserInnen schätzen: Sie wollen, dass wir anders sind, dass wir unsere Unabhängigkeit nützen - und das macht mutiger», sagte Sabina Brunnschweiler. Wichtig sei die Bindung an «Saiten»: «Schriftsteller wie Urs Richle oder Peter Weber fühlen sich ‹Saiten› zugehörig. Sie freuen sich, wenn wir sie anfragen, ob sie etwas für uns schreiben möchten … und das ist toll.» Zudem versuche «Saiten» bewusst, in den Regionen präsent zu sein, Brunnschweiler räumte aber gleichzeitig ein: «Hier ist es überschaubar, und wir sind noch in der Lage, die Rosinen zu finden - für ein nationales Medium ist das natürlich viel schwieriger.»