Medientagebuch: Enttäuscht

Nr. 14 –

Antisemitismus ist ein hartnäckiges Übel. Ein WOZ-Leser berichtet über Erfahrungen in einem Luzerner Bus. Da behauptete ein junger Mann - vermutlich ein Fussballfan - alle Juden seien schwul. Vom WOZ-Leser zur Rede gestellt, mischte sich ein Kollege ein, der sagte, seine sudetendeutschen Eltern seien nach dem Krieg von Juden vertrieben worden, und ein dritter ergänzte, alle Juden seien geldgierig.

Dieses Beispiel kann die Ergebnisse einer Befragung der Gesellschaft für praktische Sozialforschung (GfS) von Claude Longchamp konkretisieren, die letzte Woche publiziert wurden. Danach sind 10 Prozent der Bevölkerung grundsätzlich antisemitisch eingestellt und 28 Prozent punktuell. Weitere 15 Prozent sind ohne antisemitische Untertöne über die israelische Politik verstimmt.

Die GfS hat die Meinungen, Stereotypen und Gefühle gegenüber Juden und Jüdinnen aus mehr als tausend Personen herausgekitzelt. Die Fragen waren vorgegeben - sie hatten also eine gewisse Suggestivkraft. Aber Meinungen und Gefühle gegenüber den JüdInnen entstehen nicht während eines zwanzigminütigen Interviews. Das Ergebnis wäre wohl nicht anders herausgekommen, wenn die Befragten einen Aufsatz geschrieben hätten unter dem Titel: «Die Juden, Israel und ich».

Tatsache ist: Antisemitische Vorurteile und Klischees halten sich auch in einer Gesellschaft, in der Juden und Jüdinnen kaum existieren. Nur knapp 20 000 Personen in der Schweiz gehören einer jüdischen Gemeinde an. Im Alltag gibt es wenig Unterschiede - sieht man von den orthodoxen Juden mit dem Kaftan, der Kippa, den Schläfenlocken und dem Bart ab, die im Zürcher Kreis 3 leben. Aber das Nichtvorhandensein eines Gegenübers hindert den freien Fluss der Vorurteile nicht. Im Falle der JüdInnen sind diese Vorurteile auf vielfältige Weise ins gesellschaftliche Unterbewusstsein versenkt - und werden von dort bei Bedarf stets wieder abgerufen: Die Menschen, die Jesus angeblich ans Kreuz genagelt haben. Die Geldverleiher mit den Wucherzinsen. Die erfolgreichen Geschäftsleute. Die UmstürzlerInnen und die KommunistInnen. Die dekadenten Künstlerinnen und zuletzt die geldgierigen Exponenten des jüdischen Weltkongresses. Die Verwunderung bleibt: Wie viele Vorurteile können sich eigentlich in einer sogenannt aufgeklärten und zivilisierten Gesellschaft halten?

Die GfS hat auch Fragen zu Israel gestellt: Der Staat wird von vielen Befragten mitverantwortlich für den Terrorismus gemacht. Religiöse Fanatiker sässen in der Regierung. Israel trage dazu bei, die Weltpolitik zu destabilisieren. Gleiches liesse sich wohl auch über die USA abfragen.

Ein Teil der Befragten geht aber noch einen Schritt weiter: Israel führe einen Vernichtungskrieg gegen Palästina - der Vernichtungskrieg der Nazis gegen die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg klingt dabei an, vor allem aber die Vernichtung der europäischen Judenheit. Die Befragten vergleichen das Vorgehen Israels mit demjenigen der Nazis. Hier geht es nicht um die Ähnlichkeit der Methoden. Sonst könnten genauso gut das Verhalten der Briten in Südafrika oder Indien, der Belgier im Kongo und der Franzosen in Algerien als Vergleich herhalten. Der Vorwurf zielt vielmehr darauf ab, die Opfer mit den Tätern gleichzusetzen. Er ist eine politische und historische Dummheit.

Bei vielen Befragten schwingt eine «Enttäuschung» über die israelische Politik mit. Würde man den Begriff «Enttäuschung» im Zusammenhang mit der Politik der USA, jener Frankreichs, von Putins Russland oder von China anwenden? Eher nicht. Bei Israel aber ist die Enttäuschung an nicht erfüllte Erwartungen gekoppelt. Für ältere Befragte war Israel einst ein Pionierstaat: Die utopische Vorstellung, dass es möglich sei, im Heiligen Land eine bessere Welt zu errichten, war angesichts der komplexen Verhältnisse wohl schon immer eine Projektion. Enttäuscht zeigen sich auch viele Jüngere, die von Israel eine moralische Politik erwartet haben. Warum aber sollen ausgerechnet die Nachkommen von Opfern ihre Erinnerungen in eine bessere Politik umwandeln? Fragen dieser Art hat die GfS leider nicht gestellt.