Russlanddeutsche: Retour in die Heimat

Nr. 16 –

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind fast drei Millionen SpätaussiedlerInnen nach Deutschland ausgewandert. Die verlorene Heimat wollten sie hier finden und gute Arbeit. Nun zieht es immer mehr Russlanddeutsche zurück in den Osten.

Alles war in dieser einen Tasche. Die Träume, das Geld, die Kleidung; alles, was sie hatten, als sie dort gingen und hier ankamen. Elf Jahre ist das her, November 1995. Sie kamen an in Friedland, einer niedersächsischen Kleinstadt, dem Ort, an dem Deutschland seine verlorenen Söhne und Töchter zu empfangen pflegt. Im zentralen Aufnahmelager für SpätaussiedlerInnen.

Der Anfang war vielversprechend. Kaum angekommen, verliessen Olga und Vladimir Funk, ihre einjährige Tochter Christina auf dem Arm, die Enge des Aufnahmelagers, gingen in die Stadt und kauften bei Spar ein. Dutzende Tafeln von Schokolade und hemmungslos auch alles andere, an dem es ihnen in Kasachstan gemangelt hatte. Sie bezahlten mit dem Geld, das sie für den Verkauf ihres Häuschens nahe der kasachischen Hauptstadt Astana bekommen hatten. Man prasste ein bisschen, schliesslich war man nun angekommen, war aus Traum Wirklichkeit geworden: Deutschland. Die Heimat. Endlich.

Hart schlugen sie darin auf. «Ich habe elf Jahre gewartet auf das bessere Leben hier. Aber es wird nur schlimmer», sagt Olga. Kerzengerade sitzt sie am Küchentisch, eine blonde Frau von 31 Jahren mit grünen Augen und ungezähmter Sehnsucht nach der Heimat. In Kasachstan war sie Ingenieurstudentin, hier arbeitet sie als Putzfrau, den Rücken meist zum Boden gebeugt und mit ihm ihr Stolz. Die ersten zwei Jahre nach der Ankunft frischte sie ihr Deutsch auf, bewarb sich viele Male und versuchte, eine Stelle zu finden, an der sie auch ihre Mathematikkenntnisse anwenden könnte.

Am Ende aber landete sie doch immer wieder kniend auf deutschem Linoleum. Und da nun viele der früheren Lehrerinnen, Polizistinnen und Ingenieurinnen aus Russland, Kasachstan und der Ukraine mit ihr die Böden putzten, setzte ihr frisch erlerntes Deutsch schnell wieder Rost an. Denn untereinander spricht man nicht in einer fremden Sprache.

Tuschelnde KollegInnen

Olga gegenüber sitzt Vladimir, seit dreizehn Jahren ihr Mann. Und spricht aus, was immer mehr Russlanddeutsche hierzulande vorhaben: «Wir wollen zurückgehen. Wir sehen hier keine Zukunft mehr für uns. Noch ist Zeit. Meine Frau und ich sind ja erst Anfang dreissig.» Als Kraftfahrer tagein, tagaus den Asphalt vor sich und hinter sich KollegInnen, die über ihn tuscheln, weil er eine Wohnung gekauft hat und sie sich fragen, womit. Vielleicht mit den satten Zuschüssen, die die «Russen» noch immer bekommen vom deutschen Staat - wenn auch nur in ihrer Vorstellung. Dieses Misstrauen hat Vladimir mürbe gemacht. «Wir bleiben hier immer Ausländer», sagt er und fügt hinzu: «Auch wenn ich ja eigentlich Deutscher bin.» Er schickt dem Satz ein Lachen hinterher, aber seine Augen lachen nicht mit.

Manchmal noch plagen ihn Zweifel an der Rückkehr: Wieder alles aufgeben? Wieder von null anfangen, so wie damals vor elf Jahren? Und: Wohnen nicht mittlerweile auch alle seine Verwandten hier? Die würden ihm drüben dann fehlen, schon wieder. Andererseits: Kasachstan blüht gerade auf, auch Russland oder Kirgisien. Überall wächst die Wirtschaft rasant und mit ihr die Chance auf Arbeit - gut bezahlte obendrein. Und das Getuschel würde auch verstummen.

Staatsanwälte am Fliessband

«Es sind Tausende, die zurückwollen», sagt Zafar Sharajabov, ein ruhiger, kleiner Mann, der das harte Deutsch der SpätaussiedlerInnen mit sanfter Stimme spricht. «Diese Menschen leiden hier.» Sharajabov, selbst vor zehn Jahren aus Kirgisien nach Deutschland gekommen, ist Mitarbeiter der Wohlfahrtsorganisation Heimatgarten. Ursprünglich gegründet, um Kriegsflüchtlingen zu helfen, in ihre Heimatländer zurückzukehren, wenden sich seit heute immer mehr SpätaussiedlerInnen an den Verein. In Bielefeld hat man deswegen sogar eine spezielle Anlaufstelle eingerichtet, die sich nun ausschliesslich um die Belange der rückkehrwilligen Russlanddeutschen kümmert. Und deren Zahl steigt stetig an.

Wo liegen die Gründe dafür? «Viele haben über lange Jahre ausgeharrt und gehofft, nächstes Jahr würde es besser», sagt Sharajabov. «Aber bei vielen blieben die Hoffnungen unerfüllt.» Er nestelt in den Unterlagen auf seinem Schreibtisch, zieht dann ein Blatt heraus und reicht es dem Besucher. Darauf ein Schaubild, das erschrieben ist mit: «Hauptgründe für die Rückkehr der Aussiedler». Rechts und links unterteilt ist die Grafik in «ökonomisch bedingt» und «mental bedingt». Sharajabov kreist mit der flachen Hand über das Blatt und sagt: «Die Probleme gehen eigentlich ineinander über.» Tatsächlich sind die Gründe vielfältig: schlechte Sprachkenntnisse, Isolation von der deutschen Gesellschaft. Arbeitslosigkeit oder Arbeit in einem Beruf, der den Verlust sozialer Anerkennung bedeutet. Wenn ehemalige Staatsanwälte sich beispielsweise wegen ihres schlechten Deutschs hier plötzlich am Fliessband wiederfinden.

All das fügt sich zusammen zu einem Gefühl der Nutzlosigkeit, das manche in die Verzweiflung treibt und als letzte Lösung nur die Rückkehr erscheinen lässt. Sharajabovs Zeigefinger zeigt auf eine Stelle auf dem Blatt: «Dieser Punkt ist auch sehr wichtig.» Dort steht «Falsche Hoffnungen und Vorstellungen vor der Einreise», als er den Finger wieder hebt.

Meersicht auf Mallorca

Oft nämlich möchte keiner von denen, die schon hier leben, bei den Besuchen in der einstigen Heimat zugeben, dass es auch Probleme gibt im gelobten Land. Und so hielt sich dort lange die Mär von einem Deutschland, «in dem die Strassen so sauber sind wie mit Shampoo gewaschen». Die Illusion von einem Land, das frei ist von Kriminalität und voll von Hilfsbereitschaft. Bei vielen aber war es nach der Ankunft dann so, als wenn man TouristInnen fünf Sterne mit Meerblick auf Mallorca versprochen hat und sie schliesslich vor Ort einen Betonbunker mit Sicht auf eine Baustelle vorfinden. Mit dem Unterschied nur, dass die TouristInnen zurückkehren können ins eigene Heim. Die drei Millionen SpätaussiedlerInnen aber, die nach dem Fall der Mauer nach Deutschland ausreisten, hatten meist alles aufgegeben zu Hause.

Der Weg zurück erscheint immer verlockender. Denn das Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lichtet sich zusehends. Langsam entwickeln sich in der ehemaligen Sowjetunion stabile Verhältnisse, in denen Korruption zurückgedrängt wird und die Volkswirtschaften wachsen. Im Fall Kasachstan betrug das Wachstum im vergangenen Jahr fünfzehn Prozent. Nun will der Präsident der zentralasiatischen Republik, Nursultan Nasabejew, Programme auflegen, die junge Arbeitskräfte aus dem Ausland mit Vergünstigungen anlocken sollen. Vor allem aus Deutschland, wo die meisten KasachInnen ausserhalb ihrer Heimat leben. Solche mit «deutschen Tugenden und russischer Seele» sind gefragt, sagt Zafar Sharajabov von der Beratungsstelle. «Solche, die diszipliniert sind, aber sich und die Sorgen auch mal vergessen können.»

Das jedoch fiel Vladimir und Olga Funk immer schwerer in den letzten Jahren. Richtig unbekümmert sind sie eigentlich nur noch in den vier Wochen im Sommer, wenn sie mit ihren beiden Kindern Urlaub machen in der alten Heimat und von der neuen.

Ein Stück Pappe

Vor fünf Jahren haben sie auf Kredit ihre Wohnung gekauft. Sie wollten damit ein Zeichen setzen dafür, dass sie endgültig angekommen sind in Deutschland. Drei Zimmer gross ist dieses Zeichen, gelegen in einem gelbbraunen Fünfgeschosser aus den sechziger Jahren. Am Rande der schwäbischen 84 000-EinwohnerInnen-Stadt Göppingen. Laminatboden, Couchgarnitur, ein kleines Reich mit Bildern an den Wänden von der grossen Verwandtschaft, von Olgas verstorbenem Bruder, von ihren beiden Kindern Christina und Daniel. Auf den Küchenregalen stehen Lebensmittel mit kyrillischer Aufschrift. Gekauft wird nicht mehr bei Spar, sondern bei Tanja, einem kleinen Laden in der Innenstadt. Im Schaufenster stehen Matrjoschkas, traditionelle russische Puppen.

Die Hälfte ihrer NachbarInnen im Haus sind SpätaussiedlerInnen. Sie heissen Jenuwein, Weselow und Kowatz. Sie kommen aus der Ukraine, aus Kirgisien und aus Russland. Sie sind alle Deutsche wie die Funks - in ihrem Pass.

Der Pass war für viele mal die wertvollste aller Eintrittskarten zum Glück und ist heute nur noch ein schlichtes Stück Pappe, das sie lieber früher als später eintauschen möchten gegen die Papiere ihrer Herkunftsländer. Da die Hilfsorganisation Heimatgarten in engem Kontakt zu den jeweiligen Botschaften dieser Staaten steht, kennt Zafar Sharajabov konkrete Zahlen. Allein Kasachstan habe in den vergangenen beiden Jahren über zweitausend deutschen RückkehrerInnen eine neue Staatsbürgerschaft erteilt - die doppelte gibt es dort nicht.

Vielleicht haben einige von diesen RückkehrerInnen auch jenes Fremdeln ihnen gegenüber zu spüren bekommen, das oft wie eine unsichtbare Mauer zwischen den neuen und den alten Deutschen steht. Nicht etwa eine offene Ablehnung, sondern viele kleine Gesten des Unterschieds.

Als sie ihre neue Wohnung bezogen, gaben die Funks eine kleine Einstandsparty und luden dazu alle NachbarInnen ein. Natürlich auch die Deutschen ohne russischen Akzent. Alle kamen. Ausgelassen war das Fest, es gab Wodka, Wein und Pelemeni, russische Maultaschen. Man verabschiedete sich, höflich zwar in für russische Verhältnisse unüblicher körperlicher Distanz - aber doch mit warmen Worten. Fortan grüsste man sich freundlich, und freundlich auch verweigerten sich die NachbarInnen weiteren Einladungen der Funks. Wenige Wochen später klingelte es an der Tür, und davor standen zwei Polizisten. Mit einer Anzeige in der Hand, wegen andauernder Ruhestörung. Ständig brülle ein Kind, und die Musik sei immer so laut, dass man denke, hier würde dauernd eine Party gefeiert, schon mittags um zwei. Vielleicht ja auch wegen des Wodkas, man höre das ja immer wieder von den Russen. Mittags um zwei aber kam Olga immer heim vom Putzen und hörte dann für eine Stunde lang russische Schlager oder Folklore. Auch heute noch legt sie um diese Zeit die Musik ein, tanzt dabei mit dem fünfjährigen Daniel, ihrem Sohn. Bei gedämpfter Lautstärke nun.

Wie kriegt man die Möbel los?

Vladimir stellt Tschebureki auf den Tisch, eine kasachische Spezialität. «Das sind Taschen aus Hefeteig. Mit Zwiebeln und Hackfleisch drin. Wird dann im Fett - wie sagt man? - frittiert?» «Prraabieren Sie!», sagt er mit den lang gezogenen, vertauschten Vokalen und dem gerollten «r» seines russischen Akzents. «Schmeckt gut!» Er lacht, klopft sich auf den Bauch und nickt dazu mit dem Kopf: «Aber macht viele Kilo.»

«Sehr geehrter Herr Sharajabov», beginnt der Brief an die Beratungsstelle Heimatgarten, den die Funks vor kurzem abschickten. Mit vielen Grüssen endet er, und dazwischen haben die Funks um Hilfe gebeten. Bei den Formalitäten. Wie kriegt man die mit Hypotheken belastete Wohnung los? Wie die Möbel? Wie kommt man an kasachische Papiere? Wie kann man den deutschen Pass zurückgeben? Gibt es Unterstützung bei den Reisekosten?

Wenn sie in Kasachstan ankommen, werden sie nicht viel mehr haben als damals bei ihrer Ankunft in Friedland. Nur ein winziges Haus neben Olgas Eltern. Und ein Land, das ihnen vertraut ist. Alles andere wird sich finden.