Gefährliche Siege in der Luft

Nr. 3 –

2. Folge der Serie zur Geschichte der Schweizer Kampfflugzeuge: Die Fliegertruppen im Zweiten Weltkrieg. Sie sind die einzigen Schweizer, die gegen Hitlers Truppen schiessen. Doch am tollkühnen Einsatz der Kampfpiloten haben General Guisan und Bundespräsident Pilet-Golaz keine Freude. Nur knapp gelingt es ihnen, gewaltsame deutsche Reaktionen abzuwenden.

«Für Freiheit und Vaterland! Hoch über der Ajoie patrouillieren Leutnant Meuli und Oberleutnant Gürtler mit ihrem in Thun gebauten Aufklärungsflugzeug C-35 am vergangenen Samstag der Schweizer Grenze entlang. Plötzlich tauchen zwei deutsche Flieger auf und schiessen sie hinterhältig ab, Meuli und Gürtler haben keine Chance. Die Nachricht von der feigen Attacke verbreitet sich rasch, sofort schrauben sich fünfzehn Schweizer Militärpiloten auf ihren schlanken Maschinen in den Himmel und stellen sich mutig dem zahlenmässig deutlich überlegenen Feind. Und siehe da: Die Piloten Lindecker, Egli, Kuhn, Streiff setzen Treffer um Treffer, Görings Luftwaffe verliert 3 von 28 Flugzeugen. Oberleutnant Homberger kämpft sich mit Kugeln in Rücken, Lunge und sogar im Portemonnaie zurück zum Flugplatz Biel-Bözingen. Unsere Fliegertruppen beweisen: Die Schweiz leistet Widerstand!»

Die Details über diese Luftschlacht vom 8. Juni 1940 stimmen exakt. Aber der Text ist fingiert. Die Schweizer Zeitungen dürfen solche Artikel in dieser für die Schweiz heiklen Phase des Zweiten Weltkriegs nicht abdrucken, die Armeeabteilung Presse und Funkspruch untersagt ausführliche Berichte und Kommentare über die erwähnten Ereignisse.

Nur die Piloten feiern ausgelassen. In der Chronik der bei den Kämpfen involvierten Fliegerkompanie 21 zum 8. Juni ist zu lesen: «Am Abend stieg ein mächtiges Fest auf Kosten von [Pilot] Streiff», wobei gegen ein Uhr morgens «männiglich schon recht geladen hatte». Der italienische Gesandte Attilo Tamaro berichtet, «dass in Payerne, wo ein Militärflugplatz existiert, die Leute den Sieg mit einer grossen Orgie mit Damen, nächtlichem Ball und reichlichem Sektverbrauch gefeiert haben». Dies erfährt er von einem Vertrauensmann, «der in einem Zug Gespräche zwischen drei Mädchen belauscht [hat], von denen zwei als Teilnehmerinnen an der Siegesfeier mit Einzelheiten darüber renommiert hätten».

Offenbar prahlen auch die stolzen Piloten mit ihren Heldentaten. Am 26. Juli befiehlt Fliegerchef Hans Bandi: «Ich verbiete, dass über diese Aktionen unsachlich diskutiert und renommiert wird.» Warum reagiert man höheren Ortes so zurückhaltend auf die symbolträchtigen Erfolge der Kampfpiloten?

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Der Zweite Weltkrieg beginnt am 1. September 1939 noch ziemlich weit von der Schweiz entfernt. Die deutsche Wehrmacht nimmt Polen im Blitzkrieg. Nach zwei Tagen sind die 800 Flugzeuge der polnischen Luftwaffe zerstört. Nach neunzehn Tagen gibt die Armee auf.

Am 10. Mai 1940 marschiert die deutsche Wehrmacht auf ihrem Westfeldzug in Holland, Belgien, Luxemburg - alle neutral - ein. General Henri Guisan befiehlt die zweite Generalmobilmachung. Um die französische Armee in die Irre zu führen, inszenieren die Deutschen scheinbar gross angelegte Vorbereitungen, die einen unmittelbar bevorstehenden Angriff durch die Schweiz auf Frankreich vortäuschen. Nicht nur die Franzosen fallen darauf herein. Aus Basel, Bern, Zürich fliehen viele Menschen in die Zentral- oder Westschweiz, Guisan spricht von einer «Welle der Panik». Die Armee erwartet die deutschen Divisionen in der Nacht vom 14. auf den 15. Mai. Nichts geschieht.

Die Deutschen überrennen stattdessen die Franzosen im Norden. Die Spitzen der Panzergruppe Guderian erreichen bereits am 16. Juni die Schweizer Grenze bei Pontarlier. Neun Tage später tritt ein Waffenstillstand in Kraft, der Krieg im Westen ist vorläufig vorbei, die Schweiz von den Achsenmächten Deutschland und Italien (das am 10. Juni 1940 in den Krieg eingetreten ist) fast ganz umschlossen (nur bei Genf ist zu Adolf Hitlers Ärger noch ein schmaler Weg durch das unbesetzte Frankreich offen). Mit dem vollständigen Zusammenbruch der bisherigen Grossmacht Frankreich hat auch in der Schweiz niemand gerechnet.

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Den achtzig Kampfpiloten der zwölf Kampfstaffeln der Schweizer Fliegertruppen stehen Ende Mai 1940 genau 92 moderne Flugzeuge zur Verfügung - 58 deutsche Messerschmitt Me-109 D/E und 34 in Lizenz gebaute französische Morane D-3800. Lange Zeit ist unklar, wie sich Schweizer Flieger fremden Flugzeugen gegenüber verhalten sollen, die seit Kriegsbeginn in grosser Zahl den Schweizer Luftraum verletzen. Als aber bekannt wird, dass lange vor Beginn des Westfeldzugs über Belgien ein deutscher Flieger zwei belgische Flugzeuge, die diesen zur Landung aufgefordert hatten, kurzerhand abschoss, erlaubt General Guisan am 31. März den Piloten, im Schweizer Luftraum ohne vorherige Warnung auf Maschinen kriegführender Parteien zu schiessen. Am 10. Mai wird auch das Verbot, in Grenznähe zu fliegen, aufgehoben.

Endlich! Sofort stürzen sich die Piloten auf feindliche Flugzeuge innerhalb der Schweizer Grenzen, auch wenn es sich um vereinzelte, verirrte, beschädigte Maschinen handelt. Schon am 10. Mai schiesst Kampfpilot Hans Thurnheer als erster Schweizer Soldat gegen einen Feind. Doch er trifft nicht. Am Abend holen dann Walo Hörning und Albert Ahl eine deutsche Dornier Do-17 vom Himmel. Dieser «Fliegende Bleistift» geht gegenüber von Altenrhein SG jenseits der Grenze nieder. Am 16. Mai trifft es einen durch einen Schneesturm vom Weg abgekommenen deutschen Bomber Heinkel He-111, er stürzt im zürcherischen Kemleten bei Illnau ab.

Auf Schweizer Seite sind die Piloten mit den gerade eben aus Deutschland gelieferten Jagdeinsitzern Me-109 unterwegs - ausschliesslich gegen deutsche Gegner. Am 1. Juni überfliegen 36 He-111 des Kampfgeschwaders Legion Condor, die auf dem Weg zu einem Einsatz im französischen Rhonetal sind, die Schweiz. Dabei wird einer dieser Bomber abgeschossen, er stürzt bei Lignière im Kanton Neuenburg ab. Als auf dem Rückweg hinter den Bombern wieder Flugzeuge auftauchen, meldet ein deutscher Bordfunker seinen Kameraden: «Achtung, nicht schiessen, es sind Me-109, also eigener Jagdschutz!» Erst als die Schweizer schiessen, bemerken die Deutschen ihren Fehler, eine He-111 landet brennend im französischen Oltingue.

Am folgenden Tag kann sich ein bereits über Frankreich getroffener deutscher Bomber He-111 zwar noch in die Schweiz retten, wo er aber von einer Zweierpatrouille Me-109 endgültig flugunfähig geschossen wird. Der Bomber landet bei Ursins im Kanton Waadt auf dem Bauch.

Das gefällt der deutschen Luftwaffe nicht. Sie schickt am 4. Juni eine Strafexpedition in die Schweiz. 28 schwere Jagdzweisitzer Me-110 («Zerstörer» nennen sie die Deutschen) fliegen provokativ über dem Neuenburger Jura im Kreis. Sie werden von insgesamt 16 Schweizer Kampfflugzeugen - neben den Me-109 sind auch D-3800 dabei - angegriffen. Wie die Luftkämpfe abgelaufen sind, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Am Abend ist Rudolf Rickenbacher mit seiner Me-109 D bei Boécourt, zehn Kilometer westlich von Delémont, tödlich abgestürzt, zwei deutsche Me-110 sind auf französischem Gebiet zerschellt. Nach Rickenbachers Begräbnis im bernischen Lotzwil zerreisst die Bevölkerung einen gespendeten Kranz. Er kommt vom Chef der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring, der damit eine unter Kampfpiloten (den Rittern der Lüfte!) durchaus übliche Ehrenbezeugung leisten wollte.

Am 5. Juni 1940 übergibt der deutsche Gesandte Otto Köcher dem Schweizer Aussenminister und Bundespräsidenten Marcel Pilet-Golaz eine Protestnote der Reichsregierung. In Berlin ist man sehr erzürnt über die Attacken der Schweizer Piloten, die, behaupten die Deutschen, auch über französischem Gebiet stattgefunden hätten. Am Schluss der Note heisst es: «Die Reichsregierung erwartet, dass die Schweizer Regierung ihre förmliche Entschuldigung wegen dieser unerhörten Vorkommnisse ausspricht und dass sie den entstandenen Sach- und Personenschaden ersetzt. Im übrigen behält sich die Reichsregierung zur Verhinderung derartiger Angriffsakte alles weitere vor.» Am nächsten Tag trifft die Fliegerabwehrtruppe mit fünf Schüssen aus 7,5-cm-Kanonen ein deutsches Flugzeug, das dann offenbar in Frankreich abstürzt.

Die Deutschen tauchen am 8. Juni noch einmal mit 28 Me-110 drohend über dem Schweizer Jura auf. Und wieder zeigen sich die Schweizer unbeeindruckt - was an diesem Tag geschieht, ist einleitend geschildert worden: Drei deutsche Maschinen stürzen ab.

Insgesamt elf deutsche Kampfflugzeuge sind jetzt innert eines Monats von den Schweizer Flieger- und Fliegerabwehrtruppen abgeschossen worden, drei eigene Maschinen gingen verloren. Bei den beiden Luftschlachten steht die Bilanz eins zu fünf zuungunsten der Deutschen. Ja, die Schweizer haben mit ihren vornehmlich deutschen Flugzeugen wacker gekämpft. Allerdings stellt sich im Verlauf des Kriegs heraus, dass die grossen Jagdzweisitzer Me-110 den wendigeren Einsitzern (zum Beispiel der Me-109, aber auch anderen Modellen) im Luftkampf allgemein unterlegen sind.

Überrascht sind die Deutschen aber auch von der Aggressivität der Schweizer Piloten. Nachdem seit Kriegsbeginn Dutzende von Verletzungen des Schweizer Luftraums ungeahndet geblieben sind, werden nun plötzlich deutsche Flugzeuge angegriffen, die unabsichtlich über Schweizer Gebiet gelangt sind. Rechtlich ist das zwar zulässig, aber es reizt die Deutschen sehr.

Der Armeeführung war wohl sich zu wenig bewusst, was passieren kann, wenn sie die Flieger ohne Einschränkungen kämpfen lässt. Aber sie hätte wissen müssen, dass Militärpiloten, die monatelang nicht eingreifen dürfen, eventuell etwas übermotiviert sind und als selbst ernannte Elitetruppe aussergewöhnlich viel Wert auf Ruhm und Prestige legen. Der Chef des Generalstabs Jakob Labhart - kein Freund Guisans - bemängelte Ende 1939 «die Tendenz der Fliegertruppe, eine Armee für sich zu bilden», und warnte, dass «wir im Ernstfall von der Fliegerei überhaupt keinen positiven Nutzen für unsere Landesverteidigung zu erwarten haben».

Die Kampfpiloten reizen einen starken Gegner, ohne ihm wirklich gewachsen zu sein. Der Chef des persönlichen Stabs des Generals Bernard Barbey notiert in seinem Tagebuch, dass die Schweizer Flieger im Kriegsfall höchstens zwei Tage zu überleben vermöchten: «Ihr Auftrag wäre Selbstaufopferung.» Nicht mit dieser nüchternen Beurteilung einverstanden ist einer der beteiligten Flieger, Walo Hörning, der 1959 schreibt: «Ich höre noch heute die Stimmen einiger wankelmütiger Eidgenossen, die unsere Aktionen als Provokationen verurteilten und der Meinung waren, der Krieg sei bald vorüber und es sei gefährlich, den unberechenbaren ‹Führer des tausendjährigen Reiches› mit solchem Unsinn zu reizen.»

Tatsächlich beginnt sich auch Hitler für die aus deutscher Sicht an sich völlig nebensächlichen Ereignisse am Schweizer Himmel zu interessieren. Am 9. Juni 1940 «hat der Führer selbst die Weiterbearbeitung dieser Angelegenheit in die Hand genommen», wie aus deutschen Quellen hervorgeht. Ob er die zweite, im Ton noch schärfere Note vom 19. Juni beeinflusst, ist nicht klar. Sie bezeichnet die Luftschlacht vom 8. Juni als «einen flagranten feindseligen Akt», bei dem Schweizer Flieger zusammen mit den Franzosen über französischem Gebiet gegen die deutsche Luftwaffe gekämpft hätten. Falls es noch einmal zu Luftkämpfen komme, nähme die Reichsregierung «die deutschen Interessen in anderer Weise» wahr. Der Gesandte Köcher sagt bei der Übergabe, wenn den deutschen Forderungen, irrtümlich Schweizer Gebiet überfliegende deutsche Flugzeuge nicht mehr zu beschiessen, nicht entsprochen werde, könne er für nichts mehr garantieren.

Bereits auf andere Weise aktiv wird Göring. Er schickt zehn Saboteure auf Schweizer Flugplätze, die am 16. Juni zwischen 22 Uhr und Mitternacht mit Sprengsätzen Militärflugzeuge zerstören sollen. Doch es gelingt nicht, die acht Deutschen und zwei Auslandschweizer landen im Gefängnis und werden schliesslich am 16. November wegen Sabotageversuchs (und im Falle der Schweizer wegen Landesverrats) zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Die Deutschen werden nach zehn Jahren begnadigt, die beiden Schweizer am 14. Juni 1955 entlassen.

Ist dieser Sabotageversuch ein dilettantisch organisierter Racheakt - oder der Beginn des deutschen Angriffs? Immerhin steht an der Schweizer Westgrenze die 12. Armee der bisher so überlegen operierenden Wehrmacht. Am 25. Juni tritt der Waffenstillstand zwischen Frankreich und Deutschland in Kraft, in der Schweiz ist man zunächst einmal erleichtert, der Krieg scheint zu Ende. Bald kann ein Grossteil der Schweizer Soldaten nach Hause gehen. Die Erleichterung ist allerdings vermischt mit Ungewissheit: Was passiert jetzt? Was bedeutet es für die Schweiz, wenn Hitler und Mussolini den europäischen Kontinent beherrschen?

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Im Rückblick scheint die Situation im Sommer 1940 verblüffend klar. Zwei Hauptdarsteller verkörpern die zwei Wege, die der Schweiz offen stehen: General Henri Guisan und Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz. Während Pilet-Golaz das Land duckmäuserisch den Deutschen auszuliefern versuche, sei es dem General zu verdanken, dass sich die neutralen Eidgenossen mit widerständigem Willen Freiheit und Heimat bewahren. Die mutigen Flieger, als einzige im Kampfeinsatz, wären dafür eigentlich bestens geeignete Symbolfiguren.

Tatsächlich äussert sich Guisan noch am 15. Mai, als ein deutscher Angriff jeden Moment erwartet wird, als Vertreter des unbedingten Widerstands: «Solange ein Mann noch eine Patrone hat oder sich seiner blanken Waffen noch zu bedienen vermag, ergibt er sich nicht.» Das entspricht ganz dem Credo der tollkühnen Flieger.

Aber es tönt auch etwas verzweifelt. Sobald die Piloten dann dem Befehl gemäss handeln, merkt Guisan: So geht es nicht. Solange die Deutschen die Schweiz im wirtschaftlichen Würgegriff haben, ist das Problem nicht mit militärischen Mitteln zu lösen. Die Flieger verschärfen mit ihren unbedachten Einsätzen die bereits sehr ungemütliche Situation wesentlich. Mitte Juni liefern die Deutschen markant weniger überlebensnotwendige Kohle. Erst als sie sicher sind, dass die Schweiz pariert und die ihr zugedachte Rolle in der deutschen Kriegswirtschaft übernimmt, sind auch sie für Kooperation statt Konfrontation.

Das ist am 9. August 1940 der Fall, als das Wirtschaftsabkommen mit Berlin unterzeichnet wird. Pilet-Golaz betreut die Verhandlungen, die zum Deal mit Deutschland führen, anstelle des kranken, am 21. Juni zurücktretenden Volkswirtschaftsministers Hermann Obrecht. Die Schweiz kommt Deutschland wirtschaftlich und finanziell weit entgegen, wehrt sich aber erfolgreich gegen politische Konzessionen: Deutschland erhält Kredite, Devisen und Rüstungsgüter, die Schweiz im Gegenzug Kohle, Zinsen aus Anlagen in Deutschland - und Aufträge, die die hoch entwickelte Schweizer Volkswirtschaft am Laufen halten und damit der helvetischen Elite das Überleben sichern - und einigen Unternehmern sehr lukrative Geschäfte.

Guisan seinerseits nimmt die Flieger am 20. Juni vorsichtshalber aus dem Spiel: «Bis auf weiteres sind Luftkämpfe über dem gesamten Hoheitsgebiet der Schweiz zu unterlassen. Demzufolge werden keine Flugzeugbesatzungen mehr (...) gegen fremde, das schweizerische Hoheitsgebiet überfliegende Flugzeuge eingesetzt.» Nur noch geübt werden darf, ansonsten besorgt ausschliesslich die (nicht sehr wirksame) Fliegerabwehr den Neutralitätsschutz.

Pilet-Golaz und Guisan bewahren damit das Land vor äusserst unangenehmen deutschen Massnahmen, die die Flieger blindlings herausfordern. Pilet-Golaz formuliert das am 26. Juni so: «Deutschland (...) hat das Mittel des Hungers. Es handelt sich also darum, die wirtschaftliche Gefahr abzuwehren.» Zu diesem Zweck wählt Pilet-Golaz eine heikle Strategie: Er nimmt den Deutschen gegenüber in allen nicht überlebenswichtigen Punkten eine sehr zuvorkommende Haltung ein. Damit hofft er, sie zu besänftigen - und gleichzeitig hofft er, in den entscheidenden Fragen möglichst ungeschoren davonzukommen.

Einen Tag vorher hat der elitäre Antikommunist und reaktionäre Rechtsfreisinnige seine berüchtigte Radioansprache gehalten - eine politische Kapitulation, wird ihm später vorgeworfen. Pilet-Golaz spricht von der nötigen «Anpassung an die neuen Verhältnisse», vom «Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt»: «Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.» Einige Passagen wirken in der deutschen Version ziemlich suspekt, etwa wenn der französische «guide» mit «Führer» übersetzt wird.

Die Regierung steht hinter der Rede. Wer weiss, ob es irgendwo auf der Welt noch eine Macht gibt, die der überlegenen deutschen Kriegsmaschinerie trotzen will und kann? Auch die Reaktionen sind keinesfalls nur schlecht, viele Zeitungen kommentieren positiv. Vor allem SP-Politiker sind eher nicht zufrieden, grundsätzliche Kritik ist aber selten. Erst zehn Wochen später, als Pilet-Golaz am 10. September im Bundeshaus drei führende nazistische Frontisten empfängt, wird von verschiedener Seite sein Rücktritt gefordert. Dabei hält er nur an seiner Strategie fest, die allerdings nur funktioniert, wenn sie der Öffentlichkeit verborgen bleibt.

Der Historiker Edgar Bonjour schreibt 1970 in seiner amtlichen Neutralitätsgeschichte über die Wirkung von Pilet-Golaz' Rede: «Unsicherheit, Verwirrung». Und: «Rückblickend darf man vielleicht sagen, dass sie wenigstens die gute Wirkung hatte, den General zu veranlassen, das Heft in die Hand zu nehmen und eine eindeutige Widerstandsparole auszugeben.»

Diese Parole, so will es die Geschichte, gibt Guisan am berühmten Rütlirapport aus. Am 25. Juli 1940 versammelt er die rund 450 höchsten Truppenkommandanten der Armee auf dem Rütli, um ihnen das Reduit vorzustellen, sein neues strategisches Konzept zur Verteidigung der Schweiz. Die Rede ist nicht überliefert; Guisan hat aber vorgängig 26 Schreibmaschinenseiten vorbereitet, die er wohl teilweise verwendet hat. Die anwesenden Offiziere reagieren verhalten: Guisan habe nichts Aussergewöhnliches gesagt, eine «Sonntagsschulpredigt», der grosse Aufwand sei nicht gerechtfertigt. Auch die Öffentlichkeit nimmt zunächst kaum Notiz.

Später ist dies anders. Guisan-Biograf Willi Gautschi schreibt 1989: «Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich eine Art Rütli-Wunder ereignet hat. (...) An die Stelle von Verzagtheit und Resignation trat die ruhige bis fanatische Entschlossenheit, komme was wolle, einem noch so überlegenen Angreifer zu trotzen und, falls nötig, die Haut so teuer als möglich zu verkaufen. Der Rütlirapport ist zu Recht zum Begriff eines historischen Wendepunktes geworden.»

Vieles passt allerdings nicht in dieses Bild. Zuerst das Reduit. Die militärisch betrachtet eigenartige Strategie, die Bevölkerung und die wirtschaftlich wichtigen Gebiete preiszugeben, setzt sich nicht sofort durch. Höhere Offiziere monieren: «Ein Rückzug in die Gotthardstellung hat keinen Sinn.» «Eine Kriegsführung, die nur zum Ziele hat, die Armee durch Bezug eines Refugiums in den Alpen in Sicherheit zu bringen, ist unter den heutigen Umständen direkt sinnlos.» Allerdings ist Kritik nicht erwünscht. Der eben erst als Nachfolger von Hermann Obrecht gewählte Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements Walther Stampfli (FDP) beschreibt die Stimmung: «Niemand darf etwas dagegen sagen, wenn er nicht als Defätist an den Schandpranger gestellt werden will.»

Es gelingt Guisan schliesslich, den demütigen Rückzug der Armee zum Kerngedanken des Widerstands zu stilisieren, womit er selber zum militärischen Helden wird, ohne seine Soldaten in Gefahr zu bringen. Das ist nach dem Grounding seiner Kampfflieger sein zweiter Beitrag zur von Pilet-Golaz organisierten Besänftigungspolitik Deutschland gegenüber.

Wer die 26 Seiten studiert, die Guisan für seinen Rütlirapport bereit gelegt hat, merkt schnell, dass Guisans Haltung und Einschätzung der Situation derjenigen Pilet-Golaz' stark ähnelt. Folgende Gedanken hat er zwar notiert, vor seinen Offizieren aber offenbar nicht erwähnt: wie sich die Schweiz angesichts des neu geordneten Europa politisch anpassen soll; Forderung nach strenger Pressezensur, um die Deutschen nicht zu ärgern; scharfe Angriffe gegen den beliebten SP-Politiker und Berner Regierungsrat Robert Grimm (der auch von Schweizer Nazifreunden und der deutschen Gesandtschaft immer wieder attackiert wird) und gegen die Kommunisten.

Dann die Demobilisation: Pilet-Golaz hat sie zwar in seiner Rede angekündigt, aber sie entspricht auch den Vorstellungen des Generals und der politischen Logik des Reduits. Die Entlassung von zwei Dritteln der Soldaten senkt die exorbitanten Kosten und kurbelt den überlebenswichtigen Export von (Rüstungs-)Gütern nach Deutschland an: Die Schweiz wird nicht an der Grenze, sondern an der Werkbank verteidigt.

Schliesslich belegen zwei Briefe Guisans, dass er Pilet-Golaz' Schmusekurs gutheisst; ja, er ist im Gegensatz zum Aussenminister sogar bereit, sich Deutschland noch viel stärker anzunähern. Am 14. August 1940 schreibt Guisan dem Vorsteher des Militärdepartements Rudolf Minger und regt an, einen Sondergesandten nach Berlin zu schicken - «um zu einer Befriedung zu gelangen und eine Zusammenarbeit zu organisieren» («pour tenter un apaisement et instituer une collaboration»). Guisan fordert über das Wirtschaftsabkommen hinaus einen viel umfassenderen Gedankenaustausch, der auch politische, kulturelle, soziale und verkehrstechnische Fragen einbeziehe.

Am 9. November richtet er ein ähnliches Schreiben an Bundespräsident Pilet-Golaz; weder er noch Minger treten darauf ein. Pilet-Golaz schreibt 1948, die Beispiele Österreich und Tschechoslowakei hätten gezeigt, wohin inoffizielle Kontakte führen, er habe deshalb strikt auf den korrekten diplomatischen Beziehungen beharrt.

Interessant ist überdies ein Vergleich von Pilet-Golaz' geschmähter Rede mit Guisans Armeebefehl vom 25. Juli, einer Kurzversion seiner patriotischen Ausführungen auf dem Rütli, die sich doch angeblich so sehr widersprechen sollen.

Guisan: «Was vor wenigen Wochen noch unvorstellbar war, liegt heute im Bereich der Möglichkeit.» - Pilet-Golaz: «[Es] werden Hindernisse zu beseitigen sein, die man noch vor weniger als einem Jahr für unübersteigbar gehalten hätte.»

Pilet-Golaz: «Eidgenossen, an Euch ist es, nun der Regierung zu folgen als einem sicheren und hingebenden Führer, der seine Entscheidungen nicht immer wird erklären, erläutern und begründen können.» - Guisan: «Ich weiss, dass Ihr meine Befehle ausführt, selbst wenn draussen an der Front die Gründe nicht immer erkennbar sind, welche sie veranlasst haben.»

Guisan: «Die geschichtlichen Ereignisse, die sich in der letzten Zeit unter unseren Augen abspielten, haben unsere Pflicht, wachsam zu sein, in nichts verringert.» - Pilet-Golaz: «Waffenstillstand bedeutet noch nicht Friede, und unser Weltteil bleibt in Alarmzustand.»

Pilet-Golaz: «Die Ereignisse marschieren schnell: Man muss sich ihrem Rhythmus anpassen.» - Guisan: «Die Armee hat sich dieser neuen Lage anzupassen und eine neue Aufstellung zu beziehen (...).»

Guisan: «Bewahrt Euer Vertrauen und Euren Mut: Die Heimat zählt auf Euch.» - Pilet-Golaz: «Habt Vertrauen, wie auch [der Bundesrat] Vertrauen hat! (...) Mut und Entschlossenheit, Opfergeist, Selbsthingabe, das sind die rettenden Tugenden.»

Pilet-Golaz kann Guisan mitunter sogar übertrumpfen. Hier ein Zitat aus einem Armeebefehl des Generals vom 3. Juni: «Es ist (...) nicht verwunderlich, wenn unsere Geschichte so viele Beispiele heroischen, mit Erfolg gekrönten Widerstandes gegen zehnfache Übermacht aufzählt.» - Dagegen Pilet-Golaz in seiner Radiorede zum 1. August: «In St. Jakob an der Birs haben die unseren einer gegen zwanzig geschlagen. Gewiss, sie erlagen der Überzahl, aber sie erzwangen Respekt. (...) Dem Land blieb die Invasion erspart.»

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Guisan und Pilet-Golaz unterscheiden sich also weit weniger, als der verklärende Rückblick vermutet. Aber nur der General schafft es, dass sein Bild in der Öffentlichkeit nicht leidet, im Gegenteil. Mit Rütlirapport und Reduit gibt Guisan den starken Mann, der in schwerer Zeit entscheidend und handelnd vorangeht. Dagegen scheint der Bundespräsident wankelmütig und entscheidungsschwach.

Pilet-Golaz allerdings kümmert sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit um die Deutschen. Er zeigt sich gefällig, um Drohungen abzuwenden, verzögert Eingeständnisse, um bessere Umstände abzuwarten. Besonders intensiv beschäftigen ihn die Folgen der Fliegerzwischenfälle, der «gefährlichsten Spannung während des ganzen Krieges», wie der Schweizer Gesandte in Berlin Hans Frölicher am 10. Juli 1945 bilanzieren wird.

• In seiner Antwort auf die erste Drohnote der deutschen Reichsregierung vom 5. Juni 1940 zeigt sich Pilet-Golaz am 8. Juni noch unnachgiebig. Er bedauert zwar die Folgen der Luftkämpfe, bestreitet aber alle Vorwürfe und schlägt eine gemeinsame Untersuchungskommission vor.

• Die am 14. Juni 1940 verhafteten Saboteure warten auf ihr weiteres Schicksal. Eigentlich gehören sie vor Militärgericht. Pilet-Golaz möchte Deutschland in diesem Moment nicht noch zusätzlich reizen und regt an, die Gefangenen gegen in Deutschland gefangene Schweizer auszutauschen. Berlin ignoriert den Vorfall allerdings völlig. Pilet-Golaz stimmt erst am 18. Oktober dem Prozess zu.

• Der Bundesrat beschliesst am 26. Juni, alle siebzehn in der Schweiz internierten deutschen Piloten freizulassen. Das ist ein klarer Verstoss gegen die Haager Konvention von 1907, die besagt, dass ein neutrales Land fremde Truppen bis Kriegsende zu internieren hat.

• Damit sind die Deutschen besänftigt, aber noch nicht zufrieden. Sie warten auf die Antwort auf ihre zweite Protestnote vom 19. Juni. Der Bundesrat hält dazu am 1. Juli eine dringliche Sitzung ab. Auch Guisan ist dabei. Pilet-Golaz befürchtet, dass eine unangemessene Antwort gefährlich sei und die Deutschen mit Gewalt reagieren könnten - etwa mit der Bombardierung von Flugplätzen und Städten, mit weiteren Sabotageversuchen, mit der Wegnahme eines Unterpfandes wie der Stadt Basel oder gar mit der Besetzung grösserer Gebiete. Deshalb will er den deutschen Forderungen nachkommen und sich entschuldigen.

Guisan widerspricht, er desavouiere sonst seine Piloten und Offiziere. Pilet-Golaz: «Ihre Antwort erstaunt mich nicht. Hätte sie anders gelautet, wäre sie nicht die eines Soldaten gewesen.» Aber Guisan insistiert nicht, denn das sei ein politischer Entscheid. Noch am gleichen Tag meldet Kocher nach Berlin, die Schweiz habe den «Forderungen entsprochen». Am 16. Juli erfährt Frölicher in Berlin, dass der «Streit beigelegt sei».

• Der Bundesrat verzichtet zusätzlich am 6. August 1940 auf Schadenersatzforderungen für Zerstörungen, die die deutsche Luftwaffe in der Schweiz verursacht hat. Zudem erhalten die Deutschen im September ihre in der Schweiz gelandeten Flugzeuge zurück. Auch das ist klar neutralitätswidrig.

Schweizer Diplomaten empfinden die Konzessionen, die zur Erledigung der Fliegeraffäre nötig sind, als Erniedrigung. 1974 beschreibt sie der Historiker Werner Rings als «eine tiefe Verbeugung, ein Kniefall vor den Mächtigen». - Pilet-Golaz muss ausbaden, was die Guisan unterstellten Flieger angerichtet haben.

5

So lässt sich im Rückblick jenseits von Anpassung und Widerstand auch eine andere Geschichte erzählen. Das Reduit und der sogenannte Aktivdienst spielen dabei nur darum eine Rolle, weil sie den SchweizerInnen ermöglichen, sich mit Stolz an den Krieg zu erinnern. Guisans Armee ist damit bloss ein Deckmäntelchen für Pilet-Golaz' unumgänglich devote Haltung gegenüber Deutschland. Die einzige Alternative zeigen die Flieger auf: hoffnungsloser Kampf, Heldentod inklusive.

Pilet-Golaz und Guisan, die sich persönlich nicht mögen, wählen in grosser Not eine geschickte Taktik, die als Good-cop-bad-cop-Prinzip bekannt ist: Während Guisan die Flieger im Hangar und die Armee im Reduit parkiert und zum Symbol des helvetischen Widerstands wird, besänftigt Pilet-Golaz die Deutschen und setzt dafür seine Reputation in der Schweiz aufs Spiel. Wenn die Alliierten gewinnen, kommt Guisan gross raus, wenn die Deutschen gewinnen, hat Pilet-Golaz die Schweizer Positionen gesichert. Pilet-Golaz ist aber kein Freund der Deutschen. Das zeigt sich nicht zuletzt 1943, als er früher als andere den Kontakt mit den USA sucht, um der Schweiz einen guten Start in die Nachkriegszeit zu ermöglichen. Trotzdem wird er 1944 als Sündenbock aus dem Bundesrat gedrängt. («Me sött de Pilet goo la», so wird sein Name schon seit Mitte 1940 verballhornt.)

Die Deutschen bereiten ab dem 16. Juli 1940 die Invasion Britanniens vor, am 13. August beginnt die Luftschlacht über England, und auch der Feldzug gegen die Sowjetunion, zunächst noch für den Herbst 1940 vorgesehen, dann erst im Juni 1941 gestartet, bedarf der Planung. Die SchweizerInnen beten am Sonntag für den Sieg der Alliierten? Solange sie werktags für die Wehrmacht produzieren, kümmert das die Deutschen nicht.

Erst als die Bedrohung abgewendet, der Krieg vorbei ist, findet General Guisan 1946 in seinem Bericht über den Aktivdienst die Worte, die er, wäre er der Mann, für den ihn viele halten, schon am Abend des 8. Juni 1940 hätte finden sollen: «Der augenscheinliche Angriffsgeist, mit dem unsere Piloten ihre defensive Aufgabe erfüllten, wurde zu einem eindrücklichen Symbol unseres Widerstandswillens.»

In der nächsten Folge

Innovativer Hüpfer: Der erste Schweizer Düsenjäger heisst N-20, ist sehr ambitiös und bleibt am Boden sitzen.

Unterwegs im Bodensee: Vom zweiten Schweizer Düsenjäger bestellt das Parlament hundert Stück. Doch der P-16 schaffts nicht bis zur Fliegertruppe.

Der nächste Kampfjet

Für fast 400 Millionen Franken sollen die 33 F/A-18 der Schweizer Flugwaffe nachgerüstet werden, wie Ende Dezember bekannt wurde. 88 Franken und 80 Rappen will die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) aufwenden, um Vorabklärungen für ihre Initiative gegen neue Schweizer Kampfflugzeuge zu treffen. Damit reagiert die GSoA auf den Entscheid des Parlaments, für die Evaluation eines neuen Schweizer Düsenjägers 8 Millionen Franken zu sprechen. Im Jahr 2010 soll dann gemäss Armeeplan der Kauf von über dreissig Stück für geschätzte vier Milliarden Franken definitiv bewilligt werden. Bereits am 24. Februar kommt eine Initiative von Umweltschützer Franz Weber zur Abstimmung, die Übungen von Kampfjets in touristischen Gebieten verbieten will.


Die WOZ bringt eine fünfteilige Serie zur Geschichte der Schweizer Kampfflugzeuge. Bereits erschienen: «Die zwei Gründungen», WOZ Nr. 50/07. Die dritte Folge erscheint in der WOZ Nr. 5/08 am 31. Januar.

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