Weg mit den linken Tabus: Zerschlagt den gordischen Knoten!

Nr. 36 –

Wie eine neue Migrationspolitik aussehen kann und warum sie zusammen mit der Wirtschaft ausgehandelt werden muss: Anstoss zu einer Debatte.

Fast dreissig Jahre ist es her. Am 5. April 1981 wurde die «Mitenand-Initiative», massgeblich geprägt von Gewerkschaftskreisen, mit nur 16,2 Prozent erreichten Ja-Stimmen diskussionslos abgeschmettert. Sie blieb bis heute im Bereich der Migrationspolitik der letzte Versuch, in der Schweiz proaktives Agendasetting von Mitte-Links zu betreiben. Zeit für einen neuen Anlauf.

Was sind die Ausgangsbedingungen? Mit dem heute gültigen Ausländergesetz (AuG) wurde das «duale System» zementiert. Das bedeutet: volle Personenfreizügigkeit innerhalb der EU, grosse Hürden für MigrantInnen aus allen andern Ländern. Daraus resultiert eine hohe Zahl Illegalisierter, sogenannter Sans-Papiers. Studien sprechen von 100 000 bis einer halben Million, die oft seit Jahren in der Schweiz leben und arbeiten. Eine neue Migrationspolitik muss also der Tatsache gerecht werden, dass die Schweiz schon lange ein Einwanderungsland ist und Bedarf nach Arbeitskräften unterschiedlichster Art auch von ausserhalb der EU hat. Sie muss Antworten geben auf die Befürchtung, dass eine offenere Zulassungspolitik zur Aushöhlung der Sozialwerke und zu Lohndumping im grossen Stil führe. Sie muss Wege aufzeigen, wie die heute illegalisierte, aber dennoch stattfindende Migration legalisiert werden kann. Und sie muss glaubwürdig versichern, dass sie auch bezüglich einer allfälligen Rückkehr arbeitslos gewordener MigrantInnen nicht nur auf die faktisch machtlose Repressionsschiene baut.

Vier Eckpunkte

Mein Vorschlag antwortet darauf mit vier Überlegungen. Erstens: Die Personenfreizügigkeit zwecks Aufnahme der Erwerbstätigkeit wird auf alle Länder ausgeweitet. Zweitens: Der Zugang zu den Sozialwerken wird verzögert, und Mindestlohnvorschriften müssen beachtet werden. Drittens: In den Übergangsbestimmungen müssten klare Sonderbestimmungen die bereits (legal oder illegal) über vier Jahre in der Schweiz anwesenden Personen gegenüber neu Einwandernden bevorzugen. Und viertens sollen Anreize die Rück- oder Weiterwanderung fördern, wenn MigrantInnen in der Schweiz keine bezahlte Arbeit mehr finden.

Die Ausweitung der Personenfreizügigkeit wird sowohl für die ArbeitgeberInnen – seien es nun Firmen oder Privatpersonen – als auch für die betroffenen MigrantInnen Vorteile bringen. Die ArbeitgeberInnen können die aus ihrer Sicht gut geeigneten und günstigen Arbeitskräfte unabhängig vom Herkunftsort einstellen. Massstab für die Zuwanderung wäre der reale Bedarf von Wirtschaft und Gesellschaft an Arbeitskräften.

Bei Angestellten der Privatwirtschaft müssten Mindestlöhne sichergestellt werden, indem ein GAV-Abschluss Bedingung für die Anstellung von AusländerInnen ist. Im Bereich der Haus- und Betreuungsarbeit bei Privaten, die besonders häufig von Sans-Papiers ausgeführt wird, müsste der Abschluss eines einfachen Musterarbeitsvertrags für die Zulassung vorausgesetzt werden. Allerdings ist klar festzuhalten: Wenn heute Sans-Papiers mit Betreuungsaufgaben betraut werden, dann liegt dies meist daran, dass keine bezahlbaren Alternativen existieren. Realistisches Ziel muss hier nicht eine wesentliche Erhöhung der Löhne sein, sondern die Stärkung der rechtlichen Situation der ehemaligen Sans-Papiers: diskriminierungsfreier Zugang zu Gesundheitsvorsorge, Bildung, Ermöglichung von Arbeitsplatzwechsel und von Lohnklagen ohne Ausweisungsrisiko.

AHV aufs Sperrkonto

Die Befürchtung, dass Zuwandernde «die Sozialwerke aushöhlen», wird zerstreut, wenn der Zugang zu AHV und ALV gestaffelt erfolgt. Die ersten vier Jahre sollen diese Beiträge auf ein persönliches Sperrkonto einbezahlt werden. Danach – zusammen mit der Etablierung des normalen Versicherungsanspruchs – würden sie ohne Abzüge in die Töpfe der Sozialwerke fliessen. Sollte der Aufenthalt aus eigenem Willen oder wegen eines fehlenden Arbeitsvertrags vor dieser Frist beendet werden, würden die aufgelaufenen Beiträge als Starthilfe bei erfolgter Rück- oder Weiterreise am Stück ausbezahlt. Bei hohen Löhnen könnte ein Teil dieses Betrags sogar in die Kassen der Schweizer Sozialwerke fliessen. Einzig bei der IV müsste von Anfang an die normale Versicherung erfolgen, und im Falle der Erwerbsunfähigkeit durch beruflich bedingte Invalidität muss ein Bleiberecht gelten. MigrantInnen dürfen nicht als «Wegwerfarbeitskräfte» missbraucht werden.

Vorbild Bilaterale

Natürlich bricht dieser Vorschlag linke Tabus und kann aus ethischer Sicht kritisiert werden. Er ist weit von der eigentlich anzustrebenden raschen Gleichstellung der MigrantInnen entfernt. Ganz bewusst will er ja auch für Wirtschaftsverbände und für die heutigen privaten ArbeitgeberInnen von Sans-Papiers attraktiv sein. Immerhin: Seit Jahren forderte die Bewegung die kollektive Regularisierung aller mindestens vier Jahre anwesenden Sans-Papiers. Im Vergleich dazu bringt mein Vorschlag einen riesigen Vorteil: Die Betroffenen müssten sich nicht vier Jahre in der Illegalität durchschlagen, bis sie ohne Angst ihre Grundrechte einfordern, ein Spital besuchen, ausstehenden Lohn einklagen oder die Stelle wechseln können!

Der hier skizzierte Vorschlag mag auch innerhalb von Solidarité sans frontières Widerspruch auslösen: hoffentlich in Form einer lebendigen Debatte. Es braucht einen politischen Wettbewerb auch in der Linken dazu, wer migrationspolitisch die besseren Vorschläge bringt. Nicht länger leisten können wir uns den Status quo, dass diffuse Ängste und die fremdenfeindlichen Schalmeien der Rechtsaussenparteien die Traktandenliste der parlamentarischen Politik und der öffentlichen Debatte bestimmen. Aktiver waren hier in den letzten Jahren nur die ausserparlamentarischen Bewegungen: die Sans-Papiers-Kollektive mit ihrer Forderung nach kollektiver Regularisierung, die leider kaum wahrgenommene Kampagne «Un travail – un permis» oder aktuell der Ruf nach einem «Bleiberecht für alle!». Alles konkrete Vorschläge zu einer anderen Politikgestaltung.

Gefragt sind nun die links-grünen Parteien und ParlamentarierInnen. Sie müssen die bequeme Fixierung auf ein Nein zur SVP-Politik überwinden und selbst Agendasetting betreiben. Auch wenn der Glaube an rasche Erfolge naiv wäre: Ohne eigene Vorschläge wird der Widerstand gegen den rassistisch unterfütterten Diskurs von rechts nur weiter geschwächt. Übrigens braucht es keine maximale theoretische Präzision. Gerade in einem emotional aufgeladenen Feld wie der Migrationspolitik erschliesst sich das Machbare erst in der konkreten Aushandlung von Kompromissen. Wie bei den breiten Allianzen für die bilateralen Verträge mit der EU. Eine vergleichbare Allianz muss nun pragmatische Lösungen durchsetzen für die verbliebenen Hauptprobleme: die Sans-Papiers und die in den Fängen des Asylrechts «gestrandeten» Personen.

BALTHASAR GLÄTTLI, geboren 1972, ist Geschäftsführer der migrationspolitischen Organisation Solidarité sans frontières und Gemeinderat der Grünen Stadt Zürich.

Zum Beispiel Ana Rodriguez

Wie würde die vorgeschlagene neue Regelung das Leben von Sans-Papiers verändern? Nehmen wir als Beispiel eine Mutter aus Bolivien, nennen wir sie Ana Rodriguez. Sie ist Krankenschwester, hat vier Kinder, und ihr Mann und sie verdienen zu wenig, um deren Ausbildung zu finanzieren. So reist sie als Touristin in die Schweiz. Sie findet mit Hilfe von Landsfrauen Arbeit und bleibt auch nach Ablauf ihres Visums hier. Zuerst als Putzfrau in verschiedenen Haushalten. Dann als Betreuerin in einer Familie mit zwei Kindern und einem pflegebedürftigen Grossvater. Sie arbeitet schwarz, verdient schlecht, kann aber dort wohnen. Die Familie könnte sich sonst diese Betreuung nicht leisten - und Ana gelingt es, von ihrem kargen Lohn monatlich 400 bis 600 Franken nach Hause zu schicken. Das ist dort viel Geld, das die Zukunft ihrer Kinder verbessert.

Heute gibt es für Ana keine legale Möglichkeit, in der Schweiz zu arbeiten und zu bleiben. Wie schaut dies mit dem vorgeschlagenen neuen Gesetz aus? Ana kann nun ohne die tägliche Angst leben, von der Polizei aufgegriffen oder von ArbeitgeberInnen angezeigt zu werden. Sie verdient als private Pflegehilfe zwar weiterhin einen minimalen Lohn. Allerdings wehrt sie sich vor Gericht erfolgreich, als die Zahlungen plötzlich ausbleiben. Und sie ergreift nach zwei Jahren die Möglichkeit, in einem Pflegeheim die Arbeit aufzunehmen. Noch hat sie nicht entschieden, ob sie, nach dreieinhalb Jahren in der Schweiz, wieder nach Bolivien zurückkehrt und mit ihren ausbezahlten Sozialbeiträgen die notwendigen Investitionen fürs Geschäft ihres Mannes macht - oder ob sie hier bleibt und ihr Mann und die jüngsten zwei Kinder nachkommen.