Weltwirtschaftskrise: Auf zum Denkplatz Schweiz

Nr. 50 –

Jetzt soll es eine knappe Milliarde Franken sein, vielleicht später noch mal eine halbe. Aber was für ein Konjunkturpaket braucht die Schweiz wirklich?


Überall auf der Welt verkünden Präsidenten, Ministerinnen und Parteipolitiker, 2009 werde ein schlimmes Wirtschaftsjahr, und versprechen, die kommende Rezession durch entschlossenes staatliches Eingreifen zu bekämpfen.

Die EU-Kommission empfiehlt ihren Mitgliedsländern, Konjunkturpakete in der Höhe von 1,5 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) zu schnüren, also der Zahl, die die gesamte Wirtschaftsleistung eines Jahres misst. Der Empfehlung gefolgt ist Frankreich, wo Präsident Sarkozy letzte Woche ein 32-Millarden-Euro-Konjunkturprogramm aufgleiste und versprach, bis 110 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die in der EU geltende Verschuldungslimite des Staates hat er ausser Kraft gesetzt.

Auch der Bundesrat verabschiedete Ende November sein Paket. Knapp eine Milliarde Franken will Bundesrätin Doris Leuthard lockermachen. Falls sich die Konjunktur bis Ende März 2009 spürbar verschlechtert, kommt eine weitere halbe Milliarde dazu.

Doch das ist nur ein halbbatziges Programm. Zahlenmässig entspricht es ungefähr einem Viertelprozent des schweizerischen BIP und ist damit etwa sechsmal schwächer als das französische. Was die konkreten Massnahmen des Minikonjunkturprogramms betrifft, so liessen sich Leuthard und ihr Chefökonom Aymo Brunetti vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) nichts Neues einfallen. Das Paket gibt 550 Millionen Franken für bestehende Arbeitsbeschaffungsreserven frei und aktiviert für 340 Millionen Franken vorbereitete Investitionsprogramme im Bereich Hochwasserschutz und Gebäudeisolation. Es löst also lediglich die konjunkturpolitisch eh vorgesehenen Stabilisatoren zur Stützung der Nachfrage aus. Zusätzliches Geld gibt es nicht. «Die gegenwärtige Konjunkturlage», so Leuthard noch Ende November, «und die vorhandenen Prognosen rechtfertigen nach Ansicht des Bundesrates kein Abweichen von der Schuldenbremse.»

Resistentes Schlaraffenland?

Konjunkturprogramme müssen richtig konzipiert und genügend stark dosiert sein, damit sie die serbelnde Realwirtschaft ankurbeln können. Das Leuthard-Paket erfüllt beide Bedingungen nicht. Die CVP-Bundesrätin übt sich, von Seco-Chefökonom Brunetti schlecht beraten, in Wunschdenken und Passivität. Wunschdenken, weil sie die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf den Standort Schweiz gefährlich unterschätzt. Passivität, weil ihr viel zu schwach dosiertes Konjunkturpaket keine neuen Massnahmen bringt.

Während die wichtigsten Schweizer Handelspartner Deutschland, Frankreich, Italien und die USA immer schneller in die Rezession abtauchen – manche sprechen bereits von der kommenden Superrezession –, wähnt sich Leuthard im krisenresistenten Schlaraffenland. Diese Verdrängungsleistung erinnert an Leuthards Bundesratskollegen Hans-Rudolf Merz, der die UBS-Krise vor seinem Herzinfarkt ebenfalls nicht wahrhaben wollte. Nur: Die kalte Dusche für die erfolgsverwöhnte CVP-Frau aus dem Aargauer Freiamt ist schon programmiert. Finanzplatz, Exportindustrie und Binnenwirtschaft schrumpfen. 2009 wird die Weltwirtschaftskrise mit aller Wucht auf die Schweiz durchschlagen. Die Realität wird Leuthard zwingen, ein Paket vorzulegen, das seinen Namen verdient.

Dass staatliche Konjunkturpolitik bedeutsam ist, steht angesichts der Grössenordnungen ausser Zweifel. 2006 beliefen sich die Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden auf 142 Milliarden Franken, die Einnahmen auf 151 Milliarden. Das sind rund dreissig Prozent des BIP. Über die Steuerung seiner Einnahmen und Ausgaben kann der Staat die Wirtschaftskonjunktur beeinflussen.

Grosse nationale Konjunkturprogramme in Wirtschaftskrisen müssen mehrheitsfähig sein, wenn sie erfolgreich sein sollen. Sie müssen also den Bedürfnissen der zwei grossen volkswirtschaftlichen Interessen Arbeit und Kapital entsprechen und zugleich dem Gebot des ökoverträglichen Wirtschaftens – ein Interessenausgleich, so schwierig wie die Quadratur des Kreises.

Nach einer Untersuchung über die Schweizer Konjunkturpolitik der neunziger Jahre kam Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, zum Schluss: «Die Schweiz ist Weltmeister, wenn es darum geht, die konjunkturellen Probleme im Land selber zu verschlimmern.»

Arbeit will Vollbeschäftigung zu menschenwürdigen Bedingungen, Kapital will so viel Profit wie möglich. Dementsprechend sind Konjunkturprogramme aus Sicht der arbeitenden Bevölkerung Beschäftigungsprogramme, während aus Sicht der KapitalistInnen im Vordergrund steht, die Unternehmensgewinne zu sichern.

Die Natur, dritter Faktor im Wirtschaftsprozess neben Arbeit und Kapital, braucht Nachhaltigkeit. Früher war der Verbrauch von Natur zweitrangig, abgesehen vom Einsatz des kapitalmässig verbrieften Produktionsfaktors Boden. 1968 lernten wir im Ökonomiestudium, die Luft habe als sogenannte Ubiquität, das heisst als überall in unbegrenzter Quantität gratis erhältliches Gut, keinen Preis. Das hat sich mittlerweile geändert. Zumindest als Lippenbekenntnis steht die Zielgrösse Ökoverträglichkeit heute gleichrangig neben den Beschäftigungs- und Ertragswirkungen von Konjunkturprogrammen. Konjunkturprogramme sind ein gutes Aktionsfeld, um aus Lippenbekenntnissen Fakten zu machen.

Arbeit, Kapital, Natur

Aus Sicht der Arbeitenden ist bei der Konjunkturpolitik vor allem zentral, dass Arbeitsplätze geschaffen oder wenigstens erhalten werden. Dies geschieht, indem die Staatsausgaben gesteigert werden, also die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nach Waren und Diensten mit gezielten Investitionen ausgeweitet wird – etwa in Infrastruktur, Umweltschutz, Verkehr, Service public, Bildung – sowie durch Massnahmen, die den Konsum stützen. Zum Beispiel mit einem 1000-Franken-Einkaufsgutschein für jede in der Schweiz wohnhafte Person, die Anspruch auf Krankenkassen-Prämienverbilligung hat.

Aus Sicht der KapitalistInnen sieht das ideale Konjunkturpaket allerdings ganz anders aus: Die Unternehmen sollen gestärkt werden, etwa indem die Steuern gesenkt werden, also auch die Einnahmen des Staates. Die so gestärkten Unternehmen sollen dann mehr, bessere und billigere Waren und Dienste produzieren, was indirekt ebenfalls Arbeitsplätze sichert.

Linke, Gewerkschaften, Angestelltenverbände sagen: Staatsausgaben rauf. Rechte, Unternehmerinnen, Kapitalisten sagen: Steuern runter. Im Kampf dieser zwei Positionen entsteht das kommende Schweizer Konjunkturprogramm.

Was die Grössenordnung betrifft: Folgte man den eingangs erwähnten Empfehlungen der EU-Kommission, käme man auf eine Grössenordnung von etwa sechs Milliarden Franken. Das wäre dann, Zufall oder nicht, gerade gleich viel wie das staatliche Hilfsprogramm für die UBS.

Krisen sind auch Chancen, heisst es, und das gilt auch für Wirtschaftskrisen. Wird Konjunkturpolitik als investitionslenkende Ordnungspolitik verstanden, nicht bloss als dicke Geldspritze für serbelnde Unternehmen, kann der Wirtschaftsstandort Schweiz den ökologischen Umbau fördern, weg vom Finanzplatz, hin zum Werk- und Denkplatz. Sinnvolle Investitionsmöglichkeiten in den Bereichen Bildung, Energie, Klima oder öffentlicher Verkehr gibt es zuhauf. Doch das ist eine andere Geschichte.

Liberalismus, Keynesianismus, Marxismus

Ökonomische Theorien gibt es viele. Sie können in die Grundrichtungen Liberalismus, Keynesianismus und Marxismus gruppiert werden, die sich ihrerseits in unzählige Abkömmlinge und Mischungen weiterverzweigen.

Die grosse Differenz der drei Grundrichtungen liegt in der unterschiedlichen Auffassung der ökonomischen Rolle des Staates:

Die liberale Schule verabscheut jegliche Staatseingriffe und überlässt die Steuerung der Wirtschaft dem freien Markt. Dies gilt auch in Zeiten von Finanz- und Wirtschaftskrisen. Krisen treiben zwar viele Unternehmen in den Konkurs, was schmerzhafte Verluste von Kapital und Arbeitsplätzen zur Folge hat. Doch jede Krise geht wieder vorbei, und dann kann es wieder aufwärtsgehen. Nichtstun nach dem Motto «Laissez faire, laissez aller» ist für einen echten Liberalen die einzig richtige Konjunkturpolitik.

Die keynesianische Schule, benannt nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes (1883-1946), glaubt, dass die Wirtschaft Führung und Intervention des Staats braucht. Stark eingegriffen werden muss in Krisenzeiten, wenn die Märkte versagen. Dann muss der Staat mit gezieltem Einsatz von Geld die Nachfrage nach Konsumgütern und Investitionen stimulieren.

Die marxistische Schule lehnt sowohl das liberale Prinzip des freien Marktes ab als auch die keynesianische Ausgabenpolitik. Echte MarxistInnen - so eine Definition - glauben an den Wirtschaftsplan des Politbüros im kommunistischen Einparteienstaat. Dieser Plan braucht keine Konjunkturpolitik, weil der Staat das Kommando in der Wirtschaft nicht nur in der Krise beansprucht, sondern immer.

Sowohl Liberalismus als auch Keynesianismus und Marxismus sind im 20. Jahrhundert während Jahrzehnten in der wirtschaftspolitischen Praxis getestet worden. Kein System hat auf Dauer funktioniert.

Das liberale Laisser-faire feierte seinen Höhepunkt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit einem kurzen Nachglühen in den «goldenen» zwanziger Jahren. Dann führte das Nichtstun des Staates im Gefolge des Börsencrashs von 1929 zur grossen Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre. Darauf folgte die Epoche des keynesianischen Interventionismus, die nach der Kriegswirtschaft der vierziger Jahre bis in die Siebziger dauerte. Die damaligen Öl- und Währungskrisen waren mit keynesianischer Staatsintervention nicht zu überwinden. Dieses Versagen war der Startschuss zum Wiederaufleben des marktfundamentalistischen Neoliberalismus in den achtziger Jahren, dessen Absturz in Raten wir zurzeit miterleben. Der Marxismus schliesslich avancierte in der russischen Oktoberrevolution 1917 zur real praktizierten Wirtschaftspolitik, feierte anfänglich grosse Erfolge und erlebte dann sein Ende in China Ende der siebziger Jahre und in der Sowjetunion und Osteuropa Ende der achtziger Jahre. China und Russland haben ihre Wirtschaft seither zu einem bislang erfolgreichen staatskapitalistischen Gemisch mit Elementen aus Neoliberalismus, Keynesianismus und Marxismus umgebaut.

Die Lehre dieser kleinen Wirtschaftsdogmengeschichte für die Konjunkturpolitik? Ideologischer Fundamentalismus bringt nichts, der Witz der staatlichen Konjunkturförderung liegt im pragmatischen Mix.