«Tacheles»: Bedrohte Eisenvögel

Nr. 6 –

Die Party zum 20. Geburtstag könnte die letzte sein: Noch in diesem Jahr soll die legendäre Berliner Kunstruine geschlossen werden – ein Beispiel für den Verdrängungskampf in Berlin-Mitte.


Das Ding sollte weg. Vom Krieg schwer beschädigt, stand das Skelett einer Kaufhauspassage bis in die achtziger Jahre allein auf weiter Flur. Die Zündkabel waren schon verlegt, um einer neuen Kreuzung Platz zu machen. Der Mauerfall durchkreuzte die Pläne der Machthaber in der DDR. Dafür kam die KünstlerInneninitiative Tacheles, die die Ruine besetzte. Das «Tacheles» avancierte zu einer Ikone des wiedervereinigten Berlins. Voller Graffiti stach es aus der Umgebung heraus. Für manche markiert die Besetzung am 13. Februar 1990 die Geburtsstunde des neuen Berlins, zumindest des Szenelebens im Osten.

«Ein Geschenk der Geschichte»

Februar 2010. Das «Tacheles» wirkt in diesen Tagen noch trister als sonst. Wie ein Relikt an der aufgestylten Oranienburger Strasse. Vom Mythos ist nicht mehr viel übrig. Den Skulpturengarten mit den eingegrabenen Trabis und Bussen gibt es längst nicht mehr, die riesige Freifläche hinter der Ruine wirkt verödet. Die Zeiten, als Szenegrössen wie Nick Cave an der Bar des Kinos High End 54 ihre Drinks genossen, sind vorbei. Das weiss auch Kemal Cantürk, der im Erdgeschoss seine Eisenvögel zusammenschraubt: «Das ‹Tacheles› war ein Geschenk der Geschichte, plötzlich war alles möglich.» Diese Zeit scheint abzulaufen. Die Party zum 20. Geburtstag am 13. Februar könnte die letzte sein.

Martin Reiter, Mitglied des «Tacheles»-Vorstands, hat in den zwanzig Jahren mehrere Räumungsklagen erlebt und dank der Solidarität der Szene immer wieder abwehren können. «Diesmal ist es ernst», sagt der Österreicher. Das Haus steht unter Zwangsverwaltung.

1998 kaufte die Fundus-Immobiliengruppe das «Tacheles» und schloss mit den KünstlerInnen einen Vertrag für symbolische fünfzig Cent im Monat, der Ende 2008 auslief. Nach den Fundusplänen sollte hier ein neues Zentrum à la New Yorker Upper East Side entstehen. Bislang steht hier nichts, die Fundus-Tochtergesellschaft, die das Areal besass, steht in der Kreide. Nun will die HSH-Nordbank als Hauptgläubigerin das Areal verkaufen. Reiter findet das besonders verwerflich, «weil für die Freifläche noch gar keine Investoren gefunden sind». Zudem will die Bank 106 000 Euro Jahresmiete. Das «Tacheles» musste im Januar den Insolvenzantrag stellen.

Schwierige Solidarität

Ständig kommen Leute vorbei, um ihre Unterschrift für den Erhalt des Hauses abzugeben – bis jetzt rund 70 000. Der grosse Aufschrei in der Szene aber bleibt aus – manch einer moniert hinter vorgehaltener Hand, das «Tacheles» sei nicht mehr «förderungswürdig». Die BewohnerInnen haben einiges dazu beigetragen: Sie sind zerstritten und prozessierten gegeneinander. Ludwig Eben, der Chef des Café Zapata im Erdgeschoss, weigert sich seit Jahren, Miete an den «Tacheles»-Verein zu zahlen. «Ich finanziere keine undemokratischen Systeme», sagt er und meint damit Martin Reiter, dem er vorwirft, «ein Bleiberecht auf Lebenszeit» zu wollen.

Für die erste BesetzerInnengeneration ist das «Tacheles» zu einem Ort ohne Visionen und prägende Künstlerpersönlichkeiten geworden. Längst sind sie weitergezogen, auf das Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerks (RAW-Tempel) oder in illegale Bars am Osthafen. Oder sie kreierten selbst welche, wie Jochen Sandig, der später mit der Tanzschaffenden Sasha Waltz das «Radialsystem» aufbaute. Jenny Rosemeyer, Urenkelin des ersten Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl und 1990 jüngste Künstlerin im «Tacheles», sagt: «Wir mussten weitergehen, das ist der normale Lauf.» Galeriemitarbeiter Martin Barth bringt eine verbreitete Haltung auf den Punkt: «Manche, die sich Künstler nennen, lebten ganz gut auf Kosten des Eigentümers.»

Derweil arbeiten in den dreissig Ateliers zahlreiche KünstlerInnen, darunter viele aus dem Ausland, an ihren Videoinstallationen, Bildern und Skulpturen. Für sie ist das «Tacheles» nicht nur ideal zum Netzwerken, sondern auch ein Sehnsuchtsort. So auch für Alexandr Rodin, dessen Werkschau derzeit im fünften Stock gezeigt wird. Das «Tacheles» geniesst in seiner Heimat Minsk einen guten Ruf. Er betrachtet es als Privileg, inmitten eines angesagten Galerienviertels arbeiten zu können.

Mit Sorge sehen die KünstlerInnen, wie sie an die Stadtgrenze gedrängt werden. Ähnlich denken der Illustrator Roman Kroke und Tim Roeloffs, dessen Berlin-Collagen es in die Modekollektionen von Versace geschafft haben. Die Weiterexistenz des «Tacheles» wäre auch im Sinn der vielen KünstlerInnen, die sich auf Februar 2010 für Atelierplätze bewerben. Linda Cerna, Mediensprecherin des «Tacheles»: «Obwohl das ‹Tacheles› kaum öffentliche Mittel erhält, entsteht hier immer wieder spannende Kunst.» Etwa im «Goldenen Saal», in dem Sasha Waltz ab und an mit ihrem Tanztheater probt.

Appell zur Neuerfindung

Das «Tacheles» ist eines der wenigen verbliebenen Off-Kulturzentren in Berlin-Mitte. Seit Bekanntwerden der Zwangsverwaltung wird darüber gerätselt, wer nun bei einer Räumung einziehen wird. Die Modemesse Bread & Butter soll Interesse gezeigt haben, deren Chef dementierte jedoch umgehend. Wahrscheinlich wird hier passieren, was mit der aktuellen Sanierungswelle an vielen Orten in Berlin bereits Realität ist: Maroder Hinterhofcharme muss Bürokomplexen und Starbucks-Filialen weichen. Falls die Bank dennoch einwilligen sollte und das Teilstück freigeben wird, müsste sich, so Ludwig Eben, das «Tacheles» quasi neu erfinden: «Das ist die einzige Chance für dieses Haus.»


Die Vorgeschichte des «Tacheles»

Das Gebäude des heutigen «Tacheles» wurde 1909 als «Friedrichsstadtpassagen» eröffnet. Die Stahlbetonkonstruktion mit der 48 Meter hohen Kuppel galt als eine der modernsten Kaufpaläste Europas.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde das Gebäude zwangsversteigert. 1928 zog die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft ein und nannte das Gebäude fortan «Haus der Technik», zur Nazizeit übernahm es die SS, in der DDR der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund. 1943 waren im Dachgeschoss französische Kriegsgefangene untergebracht.

Schwer zerbombt überlebte das Haus den Zweiten Weltkrieg. Von 1964 bis 1981 etablierten sich das Kino Camera und eine Artistenschule. Bereits in den achtziger Jahren begann man, Teile abzureissen.