Kaukasus: Krise als Schachspiel

Nr. 23 –


Ein Stammesführer? Ein Lammeintopf? Nur noch wenige wissen, was sich hinter dem Begriff Zchinwali versteckt. Dabei war die Hauptstadt der umstrittenen Republik Südossetien 2008, während des Kriegs zwischen Georgien und Russland, weltweit im Fokus des medialen Interesses. Geistige Krisentopografien verblassen schnell. Nicht so die realen Grundlagen für Konflikte. Die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen an der europäischen Peripherie überfordern einen immer wieder. Gerät die Region ins Blickfeld der Medien, kommt es deshalb oft zu krassen Fehlbeurteilungen, die auf der allgemeinen Unkenntnis der historischen Ursachen und der aktuellen Lage beruhen. Die Augustkrise von 2008 bietet dazu einige Beispiele.

Spannend und gut lesbar

Da kommt «Krisenzone Südkaukasus» gelegen, das neue Buch von Heiko Langner. Der Politologe und wissenschaftliche Mitarbeiter der Fraktion der Linken im Deutschen Bundestag untersucht die Situation der Südkaukasusstaaten Armenien, Georgien und Aserbaidschan sowie der Sezessionsgebiete Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien «im Spannungsfeld von Identität, Völkerrecht und geostrategischen Interessen». Er analysiert die Beziehungen zwischen diesen Gebieten und den Anrainerstaaten Russland, Türkei und Iran sowie den USA und der EU unter den Bedingungen der globalisierten Wirtschaft und der Mechanismen imperialer Geopolitik.

Obwohl der Text im politologischen Duktus verfasst ist und eine grosse Informationsdichte besitzt, bleibt er über weite Strecken spannend und gut lesbar. Für eine wissenschaftliche Studie irritierend ist dagegen, dass Langner seine breite Analyse auf recht wenige Literatur- und Quellenhinweise abstützt. Auch bleibt das Werk über weite Strecken eine geostrategische Vogelschau, die wenig erahnen lässt, wie gesellschaftliche Bewegungen «von unten» sich auf grosse politische Prozesse auswirken. Langners scharfe Analyse der Interessensgruppen und ihrer Strategien ändert nichts daran, dass die Figuren auf seinem «kaukasischen Schachbrett» Staaten und Konzerne – keine «Bauern» – sind. Auch wer sich durch den Begriff «Identität» im Untertitel kulturhistorische Einsichten erhofft, wird enttäuscht werden.

Erhellende Interpretationen

Langners Stärken liegen dagegen bei seinem geostrategischen Ansatz und der völkerrechtlichen Beurteilung der komplexen Nations- und Minderheitenstrukturen des Südkaukasus, die durch eine dem Herrschaftserhalt dienliche sowjetische Nationalitätenpolitik geformt wurden. Sein besonderes Interesse gilt dem Konflikt um die von Aserbaidschan abtrünnige armenische Republik Berg-Karabach. Er geht vertieft auf die historischen und politischen Hintergründe der Problematik dieses vergessenen Konflikts ein, der die Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan blockiert. Das abschliessende Kapitel widmet Langner – nun ganz der Politberater – völkerrechtskonformen Szenarien zur Lösung der verfahrenen Situation.

Auch zu den Hintergründen zum Konflikt in Georgien von 2008 bietet Langner eine präzise Zusammenfassung und eine erhellende Interpretation der Ereignisse im Vorfeld: «Das Zusammenspiel zwischen ossetischen Schmugglern, georgischen Sicherheitskräften, russischen Friedenstruppen und tschetschenischen Partisanen stellte externe Konfliktvermittler und internationale Hilfsorganisationen vor das schier unlösbare Problem einer Kooperation von hochkorrupten staatlichen Organen mit Akteuren entstaatlichter Gewalt, von der offenbar alle Beteiligten zu profitieren schienen.» Vor dem Hintergrund dieser «Gewaltökonomie» habe der georgische Präsident Michail Saakaschwili den Waffengang gegen Südossetien gewagt – und die Eskalation des Konflikts mit Russland provoziert. Langners Strukturanalyse bietet den Interessierten das Rüstzeug für ein verbessertes Verständnis einer Region, die sicherheitspolitisch wohl noch länger von Bedeutung sein wird.

Heiko Langner: Krisenzone Südkaukausus. Verlag Dr. Köster. Berlin 2009. 127 Seiten. Fr. 25.30