Tschechien: Der Prager Sommer könnte heiss werden

Nr. 28 –

Nicht nur in Griechenland oder Britannien widersetzen sich die Beschäftigten drastischen Einschnitten und asozialen Reformen. In Tschechien steht die konservative Regierung besonders unter Druck – die Bevölkerung rückt nach links.


Symbolisch um «fünf nach zwölf» hatten sich am Mittwoch, 12. Juli, tschechische GewerkschafterInnen zu einer Demonstration vor dem Prager Gesundheitsministerium versammelt. Sie protestierten gegen den Abbau im Gesundheitswesen und bei den Sozialleistungen. Anschliessend marschierte der Demonstrationszug zum Abgeordnetenhaus, in dem das Parlament die Beratungen umstrittener Reformen aufnahm.

Die Demonstration war nicht der erste Protest gegen die Sparpläne der rechtsgerichteten Regierung in Prag. Seit einiger Zeit bereitet sich Tschechiens Gewerkschaftsbewegung auf einen heissen Sommer vor. So warnte vor zwei Wochen Lubos Pomajbik, Vorsitzender der Transportarbeitergewerkschaft KDOS: «Wenn die Regierung ihre asozialen Reformen weiter vorantreibt, dann kann ich keine Protestform ausschliessen.»

Er sagte dies nach einer Strategiesitzung des tschechischen Dachverbands Böhmisch-Mährische Konföderation der Gewerkschaften (CMKOS). In der Sitzung hatten die Gewerkschaftsspitzen beschlossen, die Proteste gegen die Regierungspolitik fortzusetzen und im August nochmals zu intensivieren. Sollte die Regierungskoalition um den konservativen Premier Petr Necas von der Demokratischen Bürgerpartei ODS den Gewerkschaften nicht entgegenkommen, werde man einen Generalstreik in Erwägung ziehen, betonte der CMKOS-Vorsitzende Jaroslav Zavadil gegenüber dem tschechischen Fernsehen.

Rente erst mit 73

Die Gewerkschaften verspüren nach einem erfolgreichen Streik Mitte Juni Aufwind: Die Transportarbeitergewerkschaft hatte landesweit den Bahnverkehr und den öffentlichen Nahverkehr in Prag weitgehend lahmlegen können. Diese grösste landesweite Arbeitsniederlegung seit 1989 wurde nahezu geschlossen befolgt, obwohl die Mainstreammedien und das Regierungslager die Gewerkschaften heftig attackiert hatten. Wenn es nach ihm ginge, würde er «die Streikenden entlassen» und private Unternehmen mit dem öffentlichen Transport betrauen, tönte etwa Tschechiens konservativer Präsident Vaclav Klaus im Vorfeld des Ausstands.

Trotz dieser Drohungen erfahren die Gewerkschaften, die jahrelang in der Defensive verharrten, grossen Zuspruch. Laut mehreren Umfragen begrüssten siebzig Prozent der Bevölkerung den Streik der TransportarbeiterInnen. Und schon lange nicht mehr war der Dachverband CMKOS, dessen Mitgliederzahl in den vergangenen fünfzehn Jahren von zwei Millionen auf eine halbe Million gesunken ist, so populär. Nach Angaben der tschechischen Nachrichtenagentur CTK unterstützt über die Hälfte der TschechInnen das entschiedene Vorgehen der Gewerkschaften; vor zwei Jahren hatten nur 37 Prozent die Organisationen der Beschäftigten für gut befunden.

Die breite Unterstützung für den Ausstand ist das Resultat des radikalen Reformprogramms der Regierungskoalition, der neben der ODS die liberalkonservative Modepartei TOP 09 («Tradice, odpovednost, prosperita», Tradition, Verantwortung, Wohlstand) und die rechtspopulistische Gruppierung VV («Veci verejne», Öffentliche Angelegenheiten) angehören. Das Kabinett von Ministerpräsident Necas plant eine grundlegende Umgestaltung des tschechischen Sozialstaats – vor allem des Rentensystems und des Gesundheitswesens. Auch eine Steuerreform ist vorgesehen. Bereits beschlossen ist die schrittweise Erhöhung des Rentenalters, das bis zum Jahr 2041 auf 67 Jahre angehoben wird. Wer nach dem 1. Januar 2012 geboren wird, soll künftig sogar bis zur Vollendung des 73. Lebensjahres arbeiten. Parallel dazu erschliesst die Regierung der Versicherungswirtschaft neue Märkte: Rentenversicherte unter 35 Jahren werden künftig einen Teil ihrer Beiträge in private Investmentfonds einzahlen müssen.

Die Gesundheitsreform hat das Kabinett ebenfalls schon auf den parlamentarischen Weg gebracht. Laut der Opposition führen die geplanten Veränderungen zu einer Zweiklassenmedizin. Sollten sie umgesetzt werden, können Kranke je nach Finanzkraft zwischen einer Basisversorgung und einer teureren Extraversorgung wählen. Wer mehr Geld hat, wird sich bessere Behandlungsmethoden und Medikamente leisten. Zudem erweiterte die Regierung die Zuzahlungspflicht für viele Arzneimittel und erhöhte die Krankenhausgebühren für alle PatientInnen von sechzig auf hundert Kronen pro Tag – umgerechnet von rund drei auf fünf Franken.

Bei der Steuerreform will Necas den ermässigten Mehrwertsteuersatz etwa für Lebensmittel ganz abschaffen. Er liegt derzeit bei 10 Prozent. Nächstes Jahr soll dieser Steuersatz, der die ärmere Bevölkerung überproportional trifft, auf 14 Prozent steigen; 2013 klettert er dann auf 17,5 Prozent. Parallel dazu soll der normale Mehrwertsteuersatz von 20 auf 17,5 Prozent sinken. Ziel dieser Massnahme ist die Senkung des tschechischen Haushaltsdefizits, das mit den für 2011 prognostizierten 4,2 Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegt. Es soll in den nächsten beiden Jahren unter drei Prozent sinken und damit die Eurostabilitätskriterien erfüllen.

All diese Pläne haben nicht nur eine Renaissance der Gewerkschaften eingeleitet, sondern auch einen Linksruck in der tschechischen Öffentlichkeit bewirkt. Neuesten Umfragen zufolge käme die tschechische Sozialdemokratie (CssD), die bei den Parlamentswahlen im Mai 2010 22 Prozent aller Stimmen bekam, nun auf über 33 Prozent. Zusammen mit der Kommunistischen Partei (KSCM), die bei gut 15 Prozent der Stimmen liegt, hätte die tschechische Linke so eine Mehrheit. Denn die grösste Regierungspartei ODS kommt nur noch auf 21 Prozent Zuspruch, und ihre Koalitionspartnerin VV ist laut Prognosen mittlerweile unter die Fünfprozenthürde abgesackt. Tschechiens SozialdemokratInnen erklärten nach der Verabschiedung der Rentenreform, dass sie diese im Fall eines Wahlsiegs unverzüglich rückgängig machen würden.

Ausgegrenzte KommunistInnen

Wie sie das bewerkstelligen wollen, ist unklar. Denn der CssD-Vorsitzende Bohuslav Sobotka hat wiederholt eine Koalition mit den KommunistInnen kategorisch ausschlossen; die KSCM ist aufgrund ihrer antikapitalistischen Positionen innerhalb des tschechischen Politikbetriebs weitgehend isoliert. Zudem drohen ihr die rechtsbürgerlichen Kräfte immer wieder mit einem Verbot: Erst im Februar setzte das Prager Innenministerium eine Sonderkommission ein, die Material für eine Illegalisierung der KSCM sammelt.

Der Widerstand gegen die Sozialpolitik liess schliesslich auch die Spannungen in der Regierungskoalition eskalieren und diese in eine Regierungskrise schlittern. Die Partei VV forderte am 26. Juni überraschend die Zusicherung, dass das von ihr geleitete Bildungsministerium künftig von Kürzungen verschont wird. Danach bewegte sich die Koalition über Tage hinweg am Rand des Zusammenbruchs. «Normalerweise wirken schlechte Umfragewerte disziplinierend», sagt der Politologe Robert Schuster; aber angesichts des rasanten Abstiegs – die VV hatte bei der Wahl vor einem Jahr noch knapp elf Prozent erzielt – greift die Disziplin offenbar nicht mehr. Erst nach der Zusicherung weiterer Mittel für das Bildungsministerium konnte die Regierungskrise beigelegt werden – vorerst.