Multikulturelles Modell Moudon: Dialog ist die beste Medizin

Nr. 32 –

Miteinander statt gegeneinander: Seit 2004 gilt in Moudon das aktive und passive Wahlrecht für AusländerInnen. Die waadtländische Gemeinde zeigt, dass die Schweiz auch anders aussehen kann als auf den hasserfüllten Plakaten der SVP.


Versteckt zwischen blumigen Wiesen und schattigen Wäldern, geschützt von murmelnden Bächen liegt Moudon auf einem Felsgrat, der schon den Römern auffiel. Sie befestigten ihn und sicherten damit den Weg von Rom nach Avenches. Im Mittelalter war der wehrhafte Marktflecken Zufluchtsort für die Landbevölkerung; die aus dem 13. Jahrhundert stammende Kirche Saint-Etienne ist eine Etappe auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Bis heute kommt viel fremdes Volk in die 5000-Seelen-Gemeinde tief im Waadtländer Hinterland. Die «Cité de bon accueil» empfängt sie mit offenen Armen.

«Wir haben 60 verschiedene Nationen und 41 Prozent AusländerInnen in Moudon», sagt Lucas Contomanolis stolz. «41 Prozent, DoppelbürgerInnen nicht mitgerechnet», präzisiert er. Contomanolis, einziger Sozialdemokrat in der Gemeindeexekutive und Präsident der SP Moudon, ist ebenfalls nicht in der Schweiz geboren. Er kommt aus Griechenland, hat sein Land vor dem Militärputsch von 1967 verlassen, in Lausanne Recht studiert und als juristischer Berater gearbeitet. Heute ist er für Moudons Sozialpolitik zuständig.

Ruandischer Gemeinderatspräsident

Contomanolis ist nicht der einzige Ausländer, der sich in Moudon politisch engagiert. Von den 55 Mitgliedern des Gemeinderats sind fünf AusländerInnen und fünfzehn DoppelbürgerInnen. Seit Januar 2004 haben AusländerInnen im Kanton Waadt das aktive und passive Wahlrecht auf Gemeindeebene. Die SP habe als erste Partei eine Liste mit einem grossen AusländerInnenanteil aufgestellt, erinnert sich Contomanolis; andere Parteien hätten zuerst abschätzig über diese «Fasnachtsliste» gelächelt. Doch seither klopfen die Bürgerlichen ebenfalls bei den ausländischen Gemeinschaften an, wenn sie ihre Listen zusammenstellen – schliesslich kann man einen WählerInnenanteil von mehr als vierzig Prozent nicht einfach links liegen lassen.

Trotzdem ist Moudon eine Hochburg der Freisinnigen, auch Stadtpräsident Gilbert Gubler ist Mitglied der «Radicaux». Wegen der Stärke der Freisinnigen muss sich die SVP mit einer diskreteren Rolle als anderswo begnügen. Mit den stabilen politischen Verhältnissen sei jedoch auch ein Immobilismus eingekehrt, sagt Contomanolis. Das sei mit ein Grund dafür, dass sich in Moudon viele AusländerInnen, selbst aus traditionell zurückhaltenden Gemeinschaften wie den Kosovo-AlbanerInnen, in die Politik einmischen.

So auch Oscar Nkezabera aus Ruanda. Er hat dank eines Stipendiums der katholischen Kirche in Freiburg studiert und wollte im Frühjahr 1994 heimkehren, als in Ruanda der Massenmord begann. «Wir hatten schon gepackt, da mussten wir uns entscheiden, in der Schweiz zu bleiben.» Stattdessen habe er beschlossen, sich aktiv zu integrieren, und zwar durch sein Engagement in der Gemeinde. Zum Thema Integration hat er ein Sprichwort aus Ruanda auf Lager: «Wenn du bei jemandem eingeladen bist, der Fliegen isst, so isst du höflich mit.»

Fliegen musste Nkezabera nicht schlucken, doch sonst dürfte ihm einiges im Hals stecken geblieben sein, seit er, ebenfalls SP-Mitglied, in Moudon ins Stadtparlament gewählt worden ist. «Hinter meinem Rücken hat es immer geheissen, der wird das nicht schaffen», erinnert er sich. Aber letztes Jahr wurde Nkezabera sogar für ein Jahr zum Ratspräsidenten gewählt – er war im Kanton Waadt der erste Politiker mit dunkler Hautfarbe in einem solchen Ehrenamt. Auch an Stammtischsprüche erinnert sich Nkezabera, zum Beispiel: «Weshalb gehst du eigentlich jeden Tag arbeiten, die Ausländer sind doch sonst nicht so fleissig?» Der Informatiker, der an einem verantwortungsvollen Posten beim Verlagshaus Edipresse in Lausanne arbeitet, kann darüber nur lächeln.

In Wohnungen statt im Heim

Nicht alles ist rosig in Moudon. «Das Meiste, was wir vorschlagen, wird abgelehnt, nur weil es von der SP kommt», ärgert sich Contomanolis. Und erzählt die Geschichte von den Graffiti hinter dem Bahnhof: «Wir suchten nach einem Mittel, Jugendliche von Sprayereien abzuhalten, und schlugen einen Graffiti-Wettbewerb vor, doch glaubst du, wir hätten von der Stadt eine Mauer erhalten? Rien à faire!» Schliesslich habe ein Privater eine Mauer zur Verfügung gestellt. Immerhin, ergänzt Nkezabera, hätten die sieben Jahre seit der Einführung des Wahl- und Wählbarkeitsrechts für AusländerInnen Entscheidendes verändert: «Wir merken es an Ideen und Vorschlägen, die heute auch von Seiten kommen, von denen man es nicht erwarten würde.»

«Es ist eine Anstrengung, die jeden Tag gemacht werden muss», sagt der Integrationsverantwortliche Claude Vauthey. Integration sei nicht das Resultat von grossen Worten und Taten, sondern vom alltäglichen Austausch zwischen den Gemeinschaften. Das multikulturelle Weihnachtsfest, die diskrete Moschee, wo sich MuslimInnen zum Gebet versammeln, ein gemeinsamer Besuch des Bundeshauses, die «Groupe Suisses-Etrangers» mit ihren 25 AktivistInnen aus sieben Ländern, die diesjährige 1.-August-Feier, zu der Bundespräsidentin Calmy-Rey nach Moudon gekommen ist ... «Es gibt kein Geheimnis von Moudon, es gibt nur den Dialog», sagt Vauthey. Und doch, es gebe eine Erklärung für die Offenheit der ländlichen Kleinstadt: die Giesserei, einer der grossen Arbeitgeber der Stadt. Sie habe seit den sechziger Jahren den Zuzug von AusländerInnen ermöglicht. Und dann gebe es auch noch die 140 bis 150 AsylbewerberInnen, die ihre Kulturen mit nach Moudon brächten.

Für die Aufnahme der AsylbewerberInnen ist Cécile Ehrensperger zuständig. «150 MigrantInnen auf 5000 BewohnerInnen, das ist über dem empfohlenen Durchschnitt», sagt sie. In der Vergangenheit habe das schon zu grossen Problemen geführt. Doch seit die MigrantInnen in Wohnungen statt in einem Heim untergebracht seien, habe sich die Situation stark verbessert: «Sie fühlen sich verantwortlich, das bringts.» Ausserdem habe die Gemeinde zusammen mit der Gruppe Suisses-Etrangers de Moudon et Région Kontaktmöglichkeiten geschaffen, bei denen Ängste und Vorurteile abgebaut werden. Am 1. August seien 120 von den 140 MigrantInnen aus Moudon an das Treffen mit Micheline Calmy-Rey gekommen: «Das ist eine enorme Beteiligung, auf die wir stolz sind!» Ehrensperger ist überzeugt, dass der soziale Zusammenhalt in der kleinen Stadt für das gute Klima verantwortlich ist: «Alle haben begriffen, dass ein gutes Zusammenleben im Interesse von allen ist.» Und was die AsylbewerberInnen speziell betreffe: «Wer sich akzeptiert fühlt, zeigt auch mehr Respekt im Umgang mit andern.»

Kanton Waadt als Vorreiter?

Was nicht vor den Toren der Stadt haltmacht, ist die Propaganda der SVP. Sie hat ihre Initiative «gegen Masseneinwanderung» auch in Moudon allen Haushalten zugestellt. Lucas Contomanolis nimmt vorsichtig Stellung: «Seit ich als Fremder die Schweiz als Modell der Demokratie bewundert habe, hat sich viel geändert.» Der Diskurs der SVP schade der Integration, «er zerstört die Motivation der AusländerInnen, sich für ihre Gemeinde zu engagieren». Und Oscar Nkezabera sagt: «Irgendwann wird man es müde, als Sündenbock missbraucht zu werden.» Er findet es falsch, dass sich die Parteien die politische Agenda von der SVP diktieren lassen: «Wir sollten viel mehr mit eigenen Vorschlägen auftreten.»

Ein solcher Vorschlag ist die Initiative «Vivre et voter ici», über die am kommenden 4. September abgestimmt wird. Sie will das aktive und passive Stimm- und Wahlrecht auf kantonaler Ebene einführen. Die Waadt wäre der erste Kanton in der Schweiz, in dem AusländerInnen auch in die kantonalen Instanzen gewählt werden könnten. «Die Initiative ist die beste Medizin gegen Fremdenfeindlichkeit», sind die beiden überzeugt.

Später die Rückkehr mit der S-Bahn nach Lausanne. Die nagelneue Bahn verbindet Moudon mit Lausanne und Genf, wo heute die Arbeitsplätze zu finden sind, die in Moudon selten werden. Beim Aussteigen sagt ein älterer Herr aus der ersten Klasse zu einem dunkelhäutigen Mitreisenden aus der zweiten, der sich erfrecht, vor ihm auf das Öffnen der Türe zu warten: «Dies ist aber nicht der Ausgang der zweiten Klasse!»