Medientagebuch: Unter Rädern

Nr. 39 –

Marcel Hänggi über Verkehrsunfälle in der Zeitung.

«Am Dienstagnachmittag, um 13.15 Uhr, verlor eine Velofahrerin bei einem Verkehrsunfall ihr Leben. Ein Chauffeur fuhr mit seinem Lastwagen durch die Landvogt Waser-Strasse und beabsichtigte nach rechts abzubiegen. Die Velofahrerin fuhr in gleicher Richtung. Bei der Einmündung in die Seenerstrasse kam es zur Kollision zwischen den Fahrzeugen, wobei die Velofahrerin unter den Lastwagen geriet» (Pressecommuniqué der Stadtpolizei Winterthur vom 5. September 2012).

Übung für angehende JournalistInnen: Machen Sie aus obiger Polizeimeldung einen Zeitungstext! Beachten Sie: Texte leben von ihren Verben!

Wer die Übung gut lösen will, wird die Wörter «überfährt» und «tötet» verwenden: Das ist es, was geschehen ist. Aber wie lösten die Profis die Übung? Der Winterthurer «Landbote» übernahm die Meldung fast wörtlich (ergänzte immerhin das fehlende Komma). «Blick», NZZ und «Tages-Anzeiger» übernahmen die Formulierung «geriet unter den Lastwagen»; nur der «Blick» schrieb wenigstens im Titel, was Sache war: «Velofahrerin von Lastwagen getötet».

«Bei einer Auffahrkollision zwischen einem Lieferwagen und einem Velo ist der Zweiradlenker schwer verletzt worden. – Aus noch unbekannten Gründen übersah ein 21-jähriger Lieferwagenlenker um 6 Uhr 45 einen 40-jährigen Velofahrer und fuhr auf diesen auf. Der Zweiradfahrer, der keinen Helm trug, stürzte und erlitt dabei schwere Verletzungen» (NZZ vom 29. August 2012). 

Die passive Verbform («ist verletzt worden») kommt ohne Täter aus. Das ist sprachlich nie elegant, kann aber von Vorteil sein, wenn man nicht weiss, was geschah – etwa, wer in einer Massenschlägerei wen verletzte. Wenn indes ein Lieferwagen ein Velo rammt, weiss man das – man behauptet ja noch keine Schuld in juristischem Sinne, indem man Klartext schreibt. Allerdings konnten weder Polizei noch Redaktorin wissen, ob der Chauffeur den Velofahrer tatsächlich «übersah» oder ob er es nur später behauptete. Bei der Entlastung des Täters ist die Meldung nicht so vorsichtig wie beim Bestreben, ihn keinesfalls als Täter darzustellen.

«Eine jugendliche Velofahrerin ist am Freitagmorgen bei einer Kollision mit einem Auto schwer verletzt worden. (…) Bei der Kreuzung Kammershaus kam es dabei aus noch zu klärenden Gründen zur Kollision. Die Velofahrerin wurde beim Unfall schwer verletzt. Es kam zu Verkehrsbehinderungen» («Thuner Tagblatt» vom 14. September 2012). 

Das ist nicht nur schlechtes Deutsch. Es spiegelt, wie unsere Gesellschaft mit Verkehrsgefahren umgeht: wie mit Naturereignissen. Der Strassenverkehr fordert seine «Opfer» wie einst die Götter. Über einen Raubüberfall würde niemand schreiben: «Bei einer Kollision dreier Männer geriet das Bargeld eines 34-Jährigen in die Taschen zweier Unbekannter» – aber Velofahrerinnen «geraten» unter Lastwagen, «es kommt zu» Kollisionen. Von extremen RaserInnen grenzen sich alle ab, «Balkanraser» sind für Medienkampagnen gut, doch die alltäglichen Tötungen und Körperverletzungen im Strassenverkehr nennt man nicht beim Namen. Dass Autos in der Schweiz durchschnittlich einen Menschen pro Tag töten (weltweit: einen alle 24 Sekunden), daran hat man sich gewöhnt.

«Vor dem Friedhof am Hörnli wurde (…) eine 83-jährige Fussgängerin von einem Auto erfasst und schwer verletzt. Die Frau wollte die Hörnliallee auf dem Fussgängerstreifen überqueren, als ein Autolenker von der Grenzacherstrasse kam. Die Frau erlitt schwerste Verletzungen» («Basler Zeitung» vom 19. September 2012). 

Marcel Hänggi ist freier Wissenschaftsjournalist.