Kommentar von Pit Wuhrer: Die Geister der Vergangenheit

Nr. 3 –

Weil der schlecht konzipierte Friedensprozess in der nordirischen Klassengesellschaft nie unten ankam, spielen Kids wieder Krieg. Das ist nicht ganz ungefährlich.

Es gab einmal eine Zeit, da wussten es die der britischen Krone loyal ergebenen ProtestantInnen besser. «Wir haben die irisch-katholischen Republikaner besiegt», brüsteten sich damals die Kommandeure der probritischen Paramilitärs, und an den Mauern der erzloyalistischen Shankill Road prangte der Spruch: «Die protestantische Bevölkerung von Westbelfast akzeptiert die bedingungslose Kapitulation der IRA.» Das war 1994, kurz nach dem ersten Waffenstillstand der IRA. Nur wenige Jahre danach, im Belfaster Abkommen von Karfreitag 1998, bestätigte sich diese Einschätzung: Es besiegelte den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich. Und die irischen RepublikanerInnen, die dreissig Jahre lang militärisch (IRA) und politisch (Sinn Féin) das Staatsgebilde Nordirland und die britische Kolonialmacht bekämpft hatten, liessen sich in eine Allparteienregierung einbinden.

Inzwischen ist diese Wahrnehmung aber in Vergessenheit geraten – zumindest bei den unteren Schichten der protestantischen Bevölkerungsmehrheit. Seit sechs Wochen demonstrieren in Belfast (aber nicht nur dort) Tausende gegen einen Beschluss des Belfaster Gemeinderats, die britische Flagge nicht mehr rund um die Uhr über dem Rathaus wehen zu lassen, sondern nur noch zu besonderen Anlässen. So kam es am Samstag erneut zu heftigen Strassenschlachten mit der Polizei, mit fliegenden Steinen und Flaschen, mit Tränengas und Hartgummigeschossen – und ein Ende ist nicht in Sicht. Woher kommt diese Unruhe? Wieso sehen Zehn-, Fünfzehn-, Achtzehnjährige (es sind vor allem Jugendliche, die demonstrieren) wider alle Realität die britische Identität Nordirlands gefährdet? Warum klopfen sie Sprüche vom drohenden Untergang des Protestantismus, den vor über vierzig Jahren fast wortgleich der radikal-bigotte protestantische Prediger (und spätere Regionalpremier) Ian Paisley immer wieder an die Wand malte? Hat da einfach jemand vergessen, den Kids zu sagen, was wirklich Sache ist?

Ganz so simpel ist es jedoch nicht. Schon das von der damaligen britischen Regierung initiierte Karfreitagsabkommen von 1998 war fehlerhaft konzipiert: Es hielt die Parteien der beiden Bevölkerungsgruppen einerseits konfessionell-politisch auseinander und schweisste andererseits deren Eliten zusammen. Beides klappte bisher. Die grossen Parteien kümmern sich jeweils hauptsächlich um die Interessen ihrer Hauptklientel (zumeist aus dem Mittelstand) und verwalten einvernehmlich die Regierungsgeschäfte. Doch die Menschen unten, in den katholisch-republikanischen Arbeiterquartieren und den probritisch-loyalistischen Arbeitslosenghettos, blieben aussen vor.

Dort aber nimmt seit dem Abkommen vor bald fünfzehn Jahren der Hass zu, dort wuchs nichts zusammen, dort entstehen immer mehr Trennmauern, dort fühlen sich die Menschen an den Rand gedrängt. Die Friedensdividende, die ihnen einst in Form von Jobs versprochen worden war, kam nie an. Stattdessen lösten sich alte Zusammenhänge auf. Mit dem Niedergang der Schwerindustrie, besonders der Werften, verlor das schlecht ausgebildete protestantische Proletariat jene Unternehmen, die ihm einst den Vorzug vor den katholischen Arbeitskräften gegeben hatten. Und so herrscht weitgehend Hoffnungslosigkeit in den Quartieren, die eine ähnlich hohe Arbeitslosigkeit aufweisen wie Spanien, nur eben nicht seit zwei Jahren, sondern seit zwanzig.

Zugleich geistern weiterhin die Mythen der alten Kämpfe durch die Viertel, die Heldensagen der loyalistischen Todeskommandos, die mithilfe der britischen Geheimdienste die katholische Bevölkerung in Angst und Schrecken gehalten hatten. Diese, so heisst es oft, hätten immerhin etwas zur Verteidigung des Protestantismus getan. Beklagen sich nicht laufend honorige protestantische PolitikerInnen darüber, dass man wegen der Machtteilung zu viele Kompromisse habe eingehen müssen? Das verantwortungslose Geschwätz hat erheblich dazu beigetragen, dass die Jungen die lächerliche Flaggenfrage so ernst nehmen. Den Krieg mit seinen zahllosen Bomben und den 3500 Toten haben sie ja nicht erlebt.

Ein ähnliches Muster zeichnet sich in den irisch-katholischen Vierteln ab: Auch dort sehen vor allem Jugendliche in der Gewalt ein probates Mittel, um endlich «die Briten» – die sie für ihre Not verantwortlich machen – aus dem Land zu jagen. Auch hier wächst eine Generation heran, die noch von sich reden machen wird. In Nordbelfast und in der katholischen Ostbelfaster Enklave Short Strand haben sie schon mehr AnhängerInnen als die «KompromisslerInnen» von Sinn Féin und der alten IRA, die vom Traum einer schnellen irischen Wiedervereinigung längst Abstand genommen haben.

Ein neuer Krieg wird deswegen nicht ausbrechen. Eine Mehrheit der NordirInnen (auch der katholischen) will bei Britannien bleiben, der marode Zustand der südirischen Ökonomie lockt niemanden. Dennoch gibt es Risiken. Der Nordirlandkonflikt brach Ende der sechziger Jahre aus, weil aufgehetzte ProtestantInnen katholische Strassenzüge überfallen und unter dem Schutz der damaligen Staatsmacht in Brand gesteckt hatten. Am Samstag versuchten die LoyalistInnen, Short Strand zu stürmen. Just in diesem bedrängten Quartier aber hatte seinerzeit die damalige IRA ihre ersten Schüsse abgefeuert.