El Salvador: Die Mörder von der Hühnerfarm

Nr. 32 –

Die Regierung El Salvadors hat vor über einem Jahr einen brüchigen Waffenstillstand mit den kriminellen Jugendgangs der Maras ausgehandelt. Diese wollen sich den Frieden bezahlen lassen.

Man muss keine Angst vor ihm haben, jetzt nicht mehr. Marvin González ist ein netter Junge, klein und schmal, und er wirkt noch schmäler in seinen weiten Sportklamotten – ganz in Blau, im Trikot der Fussballnationalmannschaft El Salvadors. Die Augen hat er wegen der Sonne zu Schlitzen zusammengekniffen, die schwarzen Haare millimeterkurz rasiert. Er hält sich am Maschenzaun fest und beobachtet die Küken. «Die Leute sagen jetzt, wir seien die Jungs von der Hühnerfarm», sagt er. Vor einem Jahr noch sagten sie: Das sind die von der Mara Salvatrucha (MS). Die, vor denen man Angst hat. Die Schutzgelderpresser und Mörderinnen. Auch Marvin war 10 seiner 29 Jahre im Gefängnis, «wegen einer Exekution».

«Wir haben viele umgebracht», sagt er. Mitglieder von Barrio 18 (B-18), dem anderen grossen Verband der Maras genannten Jugendgangs, oder «einen Wachmann, weil wir seine Waffe haben wollten». Manchmal auch einfach nur jemanden, von dem gesagt wurde, er plaudere zu viel mit der Polizei. «Wir haben nie nachgefragt und wohl auch viele Fehler gemacht.» Aber damit sei jetzt Schluss. Marvin will nicht mehr Mörder sein, sondern der nette Junge von der Hühnerfarm. Die hat ihm Salvador Ruano geschenkt, der Bürgermeister der Stadt Ilopango.

Die Farm ist Vorleistung für einen künftigen Frieden. Im März vergangenen Jahres hatten der Militärbischof des Landes und ein ehemaliger Guerillero als Vermittler der Regierung einen Waffenstillstand mit der MS und B-18 ausgehandelt. Die inhaftierten Chefs der beiden Gangs mit zusammen rund 60 000 Mitgliedern wurden aus einem Hochsicherheitsgefängnis in normale Haftanstalten zu ihrem Fussvolk verlegt. Sie bekamen Mobiltelefone, gaben Pressekonferenzen und tauchten gar zu einer Talkshow in einem Fernsehstudio auf.

Als der Deal öffentlich wurde, sagt Marvin González, «habe ich geglaubt, ich spinne». Dass er GegnerInnen, die er gestern noch bei jeder sich bietenden Gelegenheit niedergeschossen hat, heute die Hand reichen sollte, das ging nicht in seinen Kopf. Doch dann kam die Anweisung von den Chefs im Knast: Es herrscht Frieden. González ging zum Bürgermeister und bekam die Hühnerfarm.

Ein Dutzend gewaltfreie Gemeinden

Bürgermeister Ruano ist ein geselliger rundlicher Mittfünfziger und hat sein dünnes Haar mit viel Pomade nach hinten gekämmt. Er habe schon lange «gespürt, dass da etwas in der Luft liegt». Er ist einer der Vorreiter des Friedensprozesses und hat aus seinem Etat dafür 50 000 US-Dollar investiert, das meiste davon in die Hühnerfarm. «Meine erste Aufgabe als Bürgermeister ist es, das Leben zu schützen», sagt er, und nichts anderes tue er, wenn er den Mara-Mitgliedern ehrliche Arbeit anbiete.

Die gefährlichen Jungs hatten denn auch Ilopango, einen Industrievorort mit knapp 200 000 EinwohnerInnen im Grossraum der Hauptstadt San Salvador, als erste von mittlerweile einem knappen Dutzend «gewaltfreier Gemeinden» proklamiert. Sie haben ein Abkommen mit dem Bürgermeister unterzeichnet und symbolisch ihre ältesten Waffen übergeben. Das war Anfang 2013. Seither sei die Zahl der Morde in der Stadt um 85 Prozent gesunken, sagt Ruano stolz.

Auch Präsident Mauricio Funes von der ehemals linken Guerilla der FMLN präsentiert gern solche Statistiken: Seit dem Waffenstillstand sei die Zahl der Morde im Land von durchschnittlich fünfzehn auf fünf am Tag zurückgegangen. Gibt es ausnahmsweise einmal einen Tag ohne polizeibekanntes Tötungsdelikt, verkündet Funes das sofort im Radio. Es hatte aber nicht den erwarteten Effekt. Laut Umfragen lehnen siebzig Prozent der Bevölkerung die Verhandlungen zwischen Regierung und Maras ab.

Die Kehrtwende in der Sicherheitspolitik war zu radikal. Zwei Jahrzehnte lang wurden die Maras – meist zu Recht – für alles verantwortlich gemacht, was schlecht lief im Land. Für fehlende Auslandsinvestitionen, hohe Sicherheitskosten, Drogenhandel, Schutzgelderpressung; für die Gewaltkriminalität ohnehin. Ein Sondergesetz nach dem anderen wurde aufgelegt. Auch Funes hat nach seiner Wahl 2009 die Strafen für die Mitgliedschaft in einer Mara noch einmal drastisch erhöht. Jetzt neigt sich seine Amtszeit dem Ende zu, im kommenden Februar wird sein Nachfolger gewählt, und er wollte mit der deutlich gesunkenen Gewaltkriminalität noch einmal punkten.

Kaum mehr als eine Politshow

Regierungsamtlich sind Mara-Mitglieder jetzt nicht mehr Teil des organisierten Verbrechens, sondern «Jugendliche in Risikosituationen». Für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm wurden ein paar Millionen US-Dollar lockergemacht. Nicht nur die Morde, auch die Schutzgelderpressungen sollen weniger werden, unter denen so gut wie jede Fabrik, jeder Laden und jeder Kindergarten leidet. Davon und vom Drogenhandel leben die 60 000 Mara-Mitglieder und ihre Familien. Zusammen sind das mindestens eine halbe Million Menschen – von knapp sechs Millionen EinwohnerInnen des Landes.

Marvin González macht eine einfache Rechnung auf: «Allein in unserer Clique sind wir 84», sagt er. «Dazu kommen 45 im Knast und 32 Tote, um deren Familien wir uns kümmern müssen.» Auf der Hühnerfarm arbeiten gerade 24 junge Männer und werden nicht reich davon. Und es gibt nicht nur eine Mara-Clique in Ilopango, es gibt ein gutes Dutzend. Wie soll das gehen ohne Schutzgelderpressung? Sogar Präsident Funes hat Verständnis dafür. Das sei Teil «der Lebensart von Zehntausenden von Jugendlichen» und trage dazu bei, «die Familien zu ernähren».

Die Bevölkerung aber zittert. Maximiliano, ein 48-Jähriger, der seinen richtigen Namen nicht nennen will, weil er einmal Zeuge war in einem Prozess gegen Mara-Mitglieder, flüstert sogar im Haus, wenn er über seine Erfahrungen spricht. Wie es war, als da ein Junge in das Geschäft kam, in dem er als Buchhalter arbeitete. Dass der Knirps ein Mobiltelefon abgegeben und gesagt habe, das sei ein Geschenk der Mara für den Chef. Dass auf diesem Telefon pünktlich am Ende jedes Monats durchgesagt wurde, wo das Geld zu übergeben sei. Und wie er selbst verkleidet ins Gericht gebracht und nach der Aussage im gepanzerten Wagen schnell wieder davongefahren wurde. «Zeugen werden von Maras nicht gewarnt», sagt er. «Zeugen werden sofort erschossen.» Und der Waffenstillstand? «Nur eine politische Show.»

Die Opposition nutzt diese Stimmung und macht Propaganda mit einer Anzeigenkampagne, die einen «Pakt zwischen Regierung und Verbrechern» anprangert. Der Präsident reagierte. Nach einem Wechsel an der Spitze des Ministeriums für Sicherheit und Justiz nahm man den Mara-Chefs die Mobiltelefone weg, Pressekonferenzen und Besuche in Fernsehstudios wurden untersagt, der neue Minister drohte gar damit, sie zurück ins Hochsicherheitsgefängnis zu bringen. Die Maras antworteten auf ihre Art: Am 2. Juli gab es in El Salvador 20 Morde, am 3.Juli 27. Einfach so, als kurze Demonstration der Macht. Nette Jungs wie Marvin González können sehr schnell sehr böse werden.

Kriegsfolgen

Nach dem Ende des salvadorianischen Bürgerkriegs (1980–1992) entstanden in den Armenvierteln Jugendbanden, sogenannte Maras, als kleinkriminelle Ersatzfamilien für orientierungslose Jugendliche aus zerrissenen Flüchtlingsfamilien – und als Auffangbecken für Deportierte aus den USA, die von dort die Organisationsstrukturen der Strassenbanden mitbrachten.

Erst nach 2003 reagierte der Staat mit zunehmender Repression gegen die Maras und zwang sie so in den Untergrund und ins organisierte Verbrechen.

Im März 2012 schlossen die Maras mit der Regierung einen Waffenstillstand, kontrollieren aber in Zusammenarbeit mit den mexikanischen Kartellen weiterhin den Drogenhandel in El Salvador.