Michèle Roten: «Schlechtes Gewissen ist einfach Bullshit»

Nr. 38 –

Noch vor zwei Jahren wollte die Kolumnistin und Autorin Michèle Roten nicht als Feministin bezeichnet werden. Heute nennt sie sich selbst eine. Im Gespräch mit der WOZ erklärt sie, warum.

«Wir brauchen einen richtigen Vaterschaftsurlaub, denn sonst ist völlig klar, dass die Mutter ‹Chef Baby› wird», sagt Michèle Roten.

WOZ: Michèle Roten, wenn man sich die «Miss Universum»-Kolumnen anschaut, die Sie seit acht Jahren für das «Magazin» des «Tages-Anzeigers» schreiben, fällt auf, dass Sie sich in den letzten Jahren viel mehr mit feministischen Themen auseinandersetzen als zu Beginn. Woher kam dieser Wandel?
Er kam von selbst und gipfelte in meinem Buch «Wie Frau sein», in dem ich mich stark mit feministischen Themen beschäftigte. Und auch seither entwickelt sich das stetig weiter.

Als vor zwei Jahren «Wie Frau sein» erschien, sagten Sie, dass Sie sich selbst nicht wirklich als Feministin bezeichnen mögen. Hat sich das mittlerweile geändert?
Ja, ich nenne mich heute ganz klar eine Feministin. Ich glaube, der Grund für meine damalige Abneigung war, dass ich mit dieser Vorstellung aufgewachsen bin, dass Frauen heute alles haben können und alles dürfen, und es gab sehr lange nichts, was mich daran zweifeln liess. Mir wurde erst später klar, dass es neben meiner eigenen Erfahrung auch ein überindividuelles Schicksal gibt – namens Frausein – und dass sich die Beschäftigung damit unter dem Stichwort «Feminismus» zusammenfassen lässt.

War der Hauptgrund für Ihr neustes Buch «Wie Mutter sein» auch ein feministischer?
Auf jeden Fall. Es ist krass, was ein Kind mit einem Frauenleben anstellt. Was mich schockiert hat, waren all die Geschichten von meinen Freundinnen, denen zum Teil plötzlich gekündigt wurde, als sie vom Mutterschaftsurlaub zurückkamen, oder denen die spannenden Projekte im Job entzogen wurden. Der andere Grund für mein Buch war dieses Idealbild der Übermutter, die jeden Babybrei selbst kocht und nur Stoffwindeln verwendet. Ein Kind zu haben, ist ja schon anstrengend genug, aber der gesellschaftliche Druck, der dazukommt, ist furchtbar. Dem wollte ich etwas entgegensetzen, mit dem sich meine Generation identifizieren kann.

Sie plädieren in Ihrem Buch dafür, eine «Gutgenugistin» zu werden und überhöhte gesellschaftliche Erwartungen von sich zu weisen. Ist Ihnen das gelungen?
Ich bin dran, eine Gutgenugistin zu werden! Ein Stück weit kann ich es schon, einfach, weil ich faul bin. Aber vieles habe ich erst gelernt, als mein Sohn etwas älter wurde. Die ersten paar Monate habe ich mich von allem Möglichem ins Bockshorn jagen lassen, hatte ständig ein schlechtes Gewissen und machte mir Sorgen. Dazu kommt, dass immer alle dreinreden, wenn man ein Kind hat: «Was, du gibst ihm einen Nuggi? Uiuiui, da wird er aber später eine Kieferfehlstellung haben.» Das kann einen echt verrückt machen. Und dieses schlechte Gewissen ist Bullshit. Anders als gut genug kann man den Job als Mutter eh nicht machen. Vor allem dann nicht, wenn man nebenher noch arbeitet. Gut genug reicht.

Es scheint für viele Mütter sehr schwer zu sein, sich ihre Überforderung einzugestehen.
Über die negativen Seiten des Mutterseins zu reden, ist eines der letzten krassen Tabus in unserer Gesellschaft. Jeder negative Satz über dein Kind muss anfangen mit: «Also ich liebe ja mein Kind über alles, und es ist megalässig, aber …» Ich finde, da wird viel zu viel schöngeredet. Man muss doch auch mal sagen können: Mein Kind geht mir manchmal auf den Sack. Kinder haben ist nicht immer nur lässig. Und jede Mutter, die was anderes behauptet, lügt wahrscheinlich.

Abgesehen von «Gutgenugismus» – was müsste sich auf gesellschaftspolitischer Ebene ändern, damit Muttersein und Berufstätigkeit leichter zu vereinbaren sind?
Für mich beginnt das auf der Mikroebene: Männer müssen sich als Väter noch stärker engagieren und sollten nicht bereits dann als Superpapi gelten, wenn sie mit dem Kind einen Tag lang in den Zoo gehen. Wichtig ist dazu natürlich auf der Makroebene ein richtiger Vaterschaftsurlaub, denn sonst ist völlig klar, dass die Mutter «Chef Baby» wird. Der andere grosse Punkt ist Teilzeitarbeit. Ich sage: Achtzig Prozent ist das neue hundert Prozent! Und anstatt nur von einer Frauenquote zu reden, wäre es ganz gut, man würde darauf achten, dass wir auch mehr Mütter in Führungspositionen haben. Erst dann wird eine neue Kultur entstehen, wo es selbstverständlich ist, dass jemand neben dem Job auch noch Betreuungspflichten hat.

An «Wie Mutter sein» fällt auf, wie offen Sie über körperliche Aspekte schreiben, von Dammrissen bei der Geburt, den Heilkräften der Plazenta und empfindlichen Brustwarzen beim Stillen. Ging es Ihnen auch dort darum, Tabus zu brechen?
Ja, ich schreibe tatsächlich gerne über körperliche Themen, und es hat Spass gemacht, ein paar Tabus zu brechen. Den weiblichen Körper gibt es in der medialen Darstellung ja eigentlich nur sexualisiert und schön und rein. Durch eine Schwangerschaft verwandelt sich dieser Körper in die reinste Maschine. Was mich zum Beispiel bei der Recherche zum Buch fasziniert hat, waren die persönlichen Gespräche mit meinen Freundinnen, die ehrlich und offen über die Geburt ihrer Kinder sprachen. Ich habe einfach Freude, wenn Leute ehrlich sind – gerade bei so einem Thema.

Sie haben in einem Interview etwa sechs Monate nach der Geburt Ihres Sohnes gesagt, dass sich Ihr Leben durch das Kind überhaupt nicht verändert habe. Würden Sie das heute noch immer sagen?
Nein. Ich fand das erste halbe Jahr tatsächlich recht easy. Das Baby war unproblematisch und schlief ziemlich viel, und wir sind auch viel mit ihm gereist. Aber dann fing er an zu laufen, uff! Und dann begann er, seinen eigenen Willen auszudrücken – dann wurde es anstrengend. Kinder sind einfach Punks: Sie scheissen auf alles und tun, auf was sie grad Lust haben.

Der irische Komiker Dylan Moran, selbst Vater von zwei Kindern, sagte einmal, Kinder seien manchmal wie kleine Alkoholiker: Sie können nicht richtig laufen, nicht richtig reden, und wenn man ihnen etwas nicht sofort gibt, beginnen sie zu wüten.
So ist es! Man könnte auch sagen, Kinder sind eigentlich Arschlöcher. Sie sind wahnsinnig egoistisch, haben null Geduld und keinen Anstand. Und dann haben sie auch noch ständig irgendwelche Spleens in Bezug auf ihr Essen oder ihr Spielzeug. Wenn Erwachsene diese Eigenschaften haben, mögen wir sie meist nicht. Und dann sind Kinder auch noch so furchtbar direkt. Ich sage in letzter Zeit oft zu Leuten, sie sollen die Aussagen meines Sohnes bitte nicht persönlich nehmen. Übrigens habe ich jetzt natürlich auch das Bedürfnis, festzuhalten, dass mein Sohn vor allem total super ist.

Schreiben Sie Ihr nächstes Buch zum Thema «Menopause»?
Das kommt ziemlich sicher. Ich schreibe einfach gern ehrlich über weibliche Themen, stelle Fragen und zeige gesellschaftliche Zusammenhänge auf. Oder sagen wir es so: Ich stelle einfach gern Sachen fest. Ich kann nicht viel anderes. Ausser kochen.

Michèle Roten

Die Zürcherin Michèle Roten (34) ist Kolumnistin und Redaktorin beim «Magazin» sowie Autorin der Bücher «Eins bis Sechs» (2009), «Wie Frau sein. Protokoll einer Verwirrung» (2011) und «Wie Mutter sein» (2013). Roten ist verheiratet und hat einen zweieinhalbjährigen Sohn.