Liliane Blaser: «Ich war immer mit den Leuten auf der Strasse»

Nr. 50 –

Hartnäckig verfolgt Liliane Blaser, die venezolanische Dokumentarfilmerin mit Schweizer Wurzeln, die Aufstände in Venezuela – und wird dafür immer wieder ausgezeichnet.

«Warme Umschläge können eine schreckliche, durch den Kapitalismus verursachte Realität nicht heilen»: Liliane Blaser zu Besuch in Bern.

27. Februar 1989: In Venezuela kommt es zu einem Volksaufstand gegen Sparmassnahmen, die die sozialdemokratische Regierung nach Rezepten des Internationalen Währungsfonds (IWF) im hoch verschuldeten Land umsetzen will. Unmittelbarer Auslöser der Proteste ist eine massive Preiserhöhung im öffentlichen Verkehr. Die Bevölkerung ist in Massen auf den Strassen. Es kommt zu Ausschreitungen und Plünderungen. Mittendrin auf dem Töff und mit Kamera: die 35-jährige Liliane Blaser. Sie filmt, macht Interviews. Auch als das Militär geschickt wird, den Aufstand zu unterdrücken, filmt sie weiter. Die Repression endet in einem Massaker. Die Angaben zu den Opfern schwanken zwischen einigen Hundert und mehreren Tausend Toten.

«Der 27. Februar war meine Feuertaufe», sagt Blaser heute während eines kurzen Besuchs in der Schweiz. Aus dem Material realisierte sie zusammen mit Lucía Lamanna den Dokumentarfilm «Venezuela, febrero 27 (de la concertación al des-concierto)» (von der Übereinkunft zur Unstimmigkeit). Es ist ihr erster Film, der bekannt wurde und venezolanische und internationale Preise erhielt. «Man kann die Rebellion von 1989 nicht verstehen ohne ihre Bilder und ihre Filme über das Thema», hält die linke venezolanische Zeitung «Correo del Orinoco» in einem Anfang November erschienenen Artikel über Liliane Blaser fest. «Ihre Augen könnten eine Kamera sein, die die wichtigsten politischen Ereignisse der letzten zwanzig Jahre projiziert.»

Mit der Kamera aufgewachsen

Liliane Blaser Aza wird am 23. August 1953 als Tochter einer venezolanischen Malerin und eines Schweizer Versicherungsagenten in Caracas geboren und wächst dort in behüteten Verhältnissen auf. Die Mutter, die auch fotografiert und filmt, lehrt die Tochter den Umgang mit der Kamera.

Nachdem sie als Kind bereits zwei Jahre in Frankreich gelebt hat, studiert Blaser 1970 ein Jahr in Paris. Sie besucht einen Grundkurs in Soziologie, Anthropologie und Psychologie und schliesst, zurück in Venezuela, in allen drei Studienrichtungen ab. Blaser arbeitet mit straffälligen Jugendlichen. Weil ihr aber bewusst wird, «dass warme Umschläge eine schreckliche, durch den Kapitalismus verursachte Realität nicht heilen können», beginnt sie, mit kommunikativen Mitteln zu arbeiten. Mit Gleichgesinnten gibt sie Zeitschriften heraus, macht Filme und ruft die Arbeits- und Forschungsgemeinschaft Cotrain ins Leben. 1982/83 studiert Blaser Film am Conservatoire libre du çinéma français in Paris. Zusammen mit Lucía Lamanna und Mylvia Fuentes gründet sie 1986 die Filmschule Instituto de Formación Cinematográfica Cotrain, der sie heute noch als Direktorin vorsteht.

Der 27. Februar 1989 stellt einen Wendepunkt in der Geschichte Venezuelas dar. Während sich in Europa der Kalte Krieg dem Ende nähert und der Kapitalismus siegt, kommt es in Venezuela zum Bruch in der kapitalistischen Klassengesellschaft. Es ist ein Bruch zwischen den Reichen und ihren Regierungen einerseits und dem Volk andererseits, das zu achtzig Prozent in Armut lebt. Die sozialen Proteste werden trotz Repression breiter und vielfältiger.

Immer mittendrin mit Kamera: Liliane Blaser. «Wer dieses Land ändern kann, das ist kein Politiker. Das sind wir als Volk», sagt eine Frau im ebenfalls preisgekrönten Film «1992: El des-cubrimiento (jugar o ser jugad@s)» (Die Ent-Deckung [spielen oder ausgespielt werden]), der unter anderem den Putschversuch des linken Oberstleutnants Hugo Chávez gegen den sozialdemokratischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez thematisiert. Auf der Strasse diskutiert das Volk bereits in den frühen neunziger Jahren, was später von Hugo Chávez aufgegriffen und nach seiner Wahl institutionalisiert wird: Die Regierung, das ist das Volk.

In dieser Zeit produzieren Liliane Blaser und Lucía Lamanna viele Filme, die die Machtverhältnisse in Venezuela kritisieren. «Zuerst gehen wir auf die Strasse, um Material zu holen, Interviews, Bilder», erklärt Blaser, «erst danach erarbeiten wir das Drehbuch und den Schnitt.» Die Filmemacherin definiert Dokumentarfilme als einen Diskurs über die Wirklichkeit: «Der Dokumentarfilm ist eine Meinung über die Realität und muss auf jeden Fall so ehrlich wie möglich sein mit den gefilmten Prozessen und Personen – allerdings immer im Wissen, dass die Meinung subjektiv und ideologisch gefärbt ist.»

Diese Philosophie wird auch an Blasers Filmschule gelehrt. Das Cotrain-Institut ist das Lebenswerk der umtriebigen Frau mit den blauen Augen und den blonden Haaren, die wegen ihres Aussehens zu Beginn auf den Demonstrationen als CIA-Spionin verdächtigt wurde. Die ruhelose, ständig filmende und arbeitende Blaser hat ihr ganzes Erbe in Cotrain investiert. Neben der Filmschule, die staatliche Unterstützung erhält, führt Cotrain ein Dokumentationszentrum, dessen Archiv auch schon von internationalen Fernsehsendern und Forschenden benutzt worden ist.

«Liliane, wir lieben dich»

Mit dem Wahlsieg von Hugo Chávez 1998 begann ein Prozess des Wandels, der «revolutionäre Prozess», wie er in Venezuela oft genannt wird. «Es wurden Schritte gemacht zu einer gerechteren Gesellschaft hin, die diejenigen mehr einbezieht, die zuvor ausgeschlossen waren», so Liliane Blaser. Der Bruch in der Klassengesellschaft jedoch bleibt. Die Oberschicht bekämpft nun die Regierung: Proteste, ein Putsch im April 2002, Unternehmerstreiks, Aussperrungen und Ausschreitungen. Mächtige Waffe in diesem Kampf sind die privaten Medien, die sozusagen die Rolle der Opposition übernommen haben. Die Medienlandschaft ist entsprechend polarisiert. Einer Vielzahl von privaten kommerziellen Medien steht eine viel geringere Zahl von Medien gegenüber, die regierungsnah berichten.

Blaser ist nun häufiger Gast an Foren und im Fernsehen. «Ich kritisiere sowohl Dinge, die in diesem Prozess nicht gut laufen, als auch die in den meisten Fällen sehr ungerechten Angriffe der Opposition und der privaten Medien. Diese kümmern sich mehr darum, den Prozess des Wandels zu diffamieren, statt darum, Nachrichten mit einem minimalen Gleichgewicht zu übermitteln.» In ihren Dokumentarfilmen wenden sich Blaser und Lamanna internationalen Themen zu: der Invasion im Irak und der nordamerikanischen Antikriegsbewegung (2006), Honduras nach dem Putsch (2009) oder Palästina (2010).

28. Mai 2007, Caracas. Liliane Blaser schlängelt sich – mit Kamera – durch das Strassenfest, das zur Lancierung des neuen öffentlich-rechtlichen Kultursenders TVes stattfindet. Immer wieder wird sie angesprochen: «Liliane, vielen Dank für deine Arbeit» – «Mach weiter so» – «Wir lieben dich.»

Weshalb diese Bekanntheit und Wertschätzung? «Ich war immer mit den Leuten auf der Strasse, in meinen Filmen erkennen sie sich wieder», erklärt die von der Linken geliebte und der Rechten gehasste Filmemacherin. «Meine Filme und meine Interventionen an Foren und im Fernsehen erklären und verteidigen diesen Prozess des Wandels.»