Medientagebuch: Ein Fehler pro Absatz

Nr. 3 –

Zur medialen Einschätzung Frankreichs

Wie man im Handumdrehen Einigkeit gegen sich stiften kann, zeigten jüngst zwei Korrespondentinnen des US-amerikanischen Magazins «Newsweek» mit ihren angeblichen Sittengemälden aus Frankreich. Das Land zu entmystifizieren und vom Sockel herunterzuholen, das hatten sie sich offenbar vorgenommen. Aufzuzeigen, «wie das Land mit dem [gallischen] Hahn zu jenem des Vogels Strauss wurde» – also den Kopf in den Sand steckt: Das war das selbst formulierte Ziel.

Wenn das Ergebnis zumindest in Frankreich weithin und gründlich missfiel, dann lag es nicht daran, dass ein französisches Publikum Kritik oder «Miesmacherei» am eigenen Land nicht goutieren würde. Ganz im Gegenteil: Weit davon entfernt, ständig den Nationalstolz gegen jegliche Kritik in Anschlag zu bringen, singen Teile der bürgerlichen Rechten begeistert das Hohelied vom «Niedergang Frankreichs». Damit können sie Druck für die von ihnen vehement geforderte «Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit» entfalten. Und schon seit der Revolution von 1789 misstrauen konservative Kreise oft dem eigenen Land und berufen sich auf das weitaus vernünftigere europäische Ausland, um in Frankreich alles wieder ins Lot zu bringen.

Der wirtschaftsliberale Einpeitscher, Leitartikler («Le Point», «Les Échos», früher auch «Le Monde») und Buchautor Nicolas Baverez hat diesen Niedergang seit Jahren beschworen. Für seine Art des Schreibens hat man sogar einen eigenen Begriff geschaffen: Man spricht vom «déclinisme», also dem ständigen Beschwören des «déclin» (Nieder- oder Rückgang). Bereits im Jahr 2003 verfasste Baverez ein für diese Denkrichtung grundlegendes Buch: «La France qui tombe» – das Frankreich, das fällt. Gleich inspiriert war wohl die «Newsweek»-Journalistin Janine di Giovanni, die seit etwa zehn Jahren in Paris wohnt, als sie den vielleicht aufsehenerregendsten Artikel ihres Lebens verfasste. Er erschien am 3. Januar unter dem Artikel «The Fall of France». Nur folgten hier Hohngelächter und Spott statt Applaus wie bei Baverez.

Denn di Giovannis Beispiele für den «Fall» waren so falsch gewählt, dass es niemand mehr übersehen konnte. Sofort legendäres Beispiel: Di Giovanni erklärt ihrem englischsprachigen Publikum, die französische Misere komme darin zum Ausdruck, dass es «im Französischen kein Wort für ‹entrepreneur› gibt», also für Unternehmer. Volltreffer: Das Wort «entrepreneur» ist, wie viele englische Begriffe im juristischen oder kommerziellen Bereich, ein Direktimport aus dem Französischen. Oder die Journalistin echauffiert sich darüber, dass Windeln für Mütter im französischen sozialistischen Paradies gratis seien, was schlicht nicht stimmt. Oder sie stellt prekäre Kulturschaffende als Privilegierte hin, nur weil diese Anrecht auf Arbeitslosengeld haben, und sieht überall vermeintliche FrührentnerInnen. So sprudeln die Behauptungen munter weiter.

Die Wirtschaftszeitung «Les Échos», ansonsten dem «déclinisme» nicht abhold, spricht von «einem Fehler pro Absatz» und «einem Weltrekord für schlechten Journalismus». Ausnahmsweise waren sich in Frankreich fast alle über die Qualität der amerikanischen Einschätzung einig. Das US-Magazin legte jedoch mit einem zweiten, ähnlich gestrickten Artikel am 7. Januar nach, jetzt von Leath McGrath Goodman. Sie schrieb, nichts am Berichteten sei falsch, doch in Frankreich habe man «ein Problem mit der freien Meinungsäusserung». Besonders beim Thema Wirtschaftsreformen.

Bernhard Schmid schreibt für die WOZ aus Paris.