«Am Fusse der Festung»: Von Aufbruch und Flucht, Stranden und Hoffnung

Nr. 17 –

In seinem Buch «Am Fusse der Festung» lässt Johannes Bühler in Marokko gestrandete Reisende zu Wort kommen, die versuchen, nach Europa zu gelangen. In diesem gekürzten Abdruck erzählt Amadou Koné, geboren 1981 in Côte d’Ivoire, seine Geschichte.

Willkommen in Duardum. Das hier ist ein Slum. Wir sind viele hier. Jeder ist mit seinem eigenen Ziel gekommen. Wir etwa, wir kamen durch die Wüste. Unser Leben ist nochmals ein anderer Film. Und es tut weh, sich daran zu erinnern, um es zu erzählen. Denn unsere Geschichten, das sind wahre Geschichten. Ich habe so einiges gesehen. Ich habe die Wüste gemacht. Ich habe Libyen gemacht. Ich habe Algerien gemacht. Die Wüste ist derart weit, wenn dein Lastwagen eine Panne hat, dann kommst du um. Ich habe die Körper toter Menschen auf dem Weg liegen sehen, den Pass auf der Brust. Franchement, da wirst du verrückt. Aber ich bin am Leben. Ich bin noch hier. Ich bin Amadou Koné. Ich bin hier, wie man sagt, ein Einwanderer wie die anderen. Ich bin gekommen, um zu überqueren. Darum bin ich hier. Seit fünf Jahren. Ich versuche, mich mit Gelegenheitsarbeit als Hilfsmaurer durchzuschlagen. 50 Dirham (5 Euro) pro Tag. Es ist Gott, der uns hier führt. Sonst nicht viel.

Sie brachten alle um

Ich verliess Côte d’Ivoire, als der Krieg ausgebrochen ist. Das war 2002. Sie haben meine Familie umgebracht, weil wir aus dem Norden sind.1 Ich war nicht zuhause, als es passierte. Ich war zu Besuch bei einem Freund und wir organisierten ein Geburtsfest für das Kind eines Cousins. Sie kamen mit Kalaschnikows, traten die Tür ein und brachten alle um. Die ganze Familie. Als ich zurückkam, habe ich ihre Körper in der verwüsteten Wohnung liegen sehen. Ich wusste nicht, ob ich noch auf Erden bin, ehrlich gesagt. Denn ich hätte mir nie ein solches Leid vorstellen können. Ich erkannte nichts mehr. Überall war Blut. Es ist nicht leicht, zu erklären, was ich fühlte. Ich konnte nicht einmal mehr die Körper überprüfen, wer alles da war. Denn ich hatte Angst, sie würden gleich wiederkommen und mir ebenso ein Ende setzen.

Also ergriff ich die Flucht. Ich war 21 Jahre alt und ging nach Mali. In Bamako schlief ich auf den Markttischen, nachdem die Frauen am Abend ihre Sachen zusammengeräumt hatten, bis ich eines Tages einen Malier traf, der mich bei sich aufnahm. Er hat mir viel geholfen und mir Mut gemacht. Er sagte, man müsse kämpfen im Leben. Denn in Mali war es nicht leicht. Doch er fand für mich eine Arbeit in einer Garage, wo ich Schweissen lernte. Das tut weh in den Augen, aber ich habe alles gemacht, was der Patron von mir verlangte. Ich sagte mir, ich muss diese Zeit durchhalten, bis ich genug Geld habe, um die Wüste zu überqueren. So blieb ich ein Jahr lang bei ihm. Als ich losging, war es, als würde ich meinen Bruder verlassen. Er erklärte mir alles und sagte: «Möge Gott dich beschützen.»

Wir reisten drei Tage lang im Herzen der Wüste, und am zweiten Tag kamen wir an einen Ort, an dem drei Körper auf dem Sand lagen. Ihre Glieder waren steif, die Hände verkrampft und auf der Brust lagen ihre Identitätskarten. Es waren drei junge Malier. Das hat mich an die toten Körper meiner Familie erinnert und ich war verzweifelt. Ich hatte keine Lust mehr weiterzureisen. Ich sagte mir, ich werde ebenso umkommen. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als mit den anderen weiterzufahren.

Am Tag darauf erreichten wir Bordj2. Ich blieb über ein Jahr in Algerien und arbeitete auf Baustellen. Es war nicht leicht. Du musst den ganzen Tag lang Sand auf Lastwagen schaufeln. Und am Abend bist du voller Staub und magst nicht einmal mehr essen, weil du so müde bist. Doch ich blieb dort und arbeitete, arbeitete, arbeitete. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht auf die Baustelle ging. Derart wollte ich mein Leben wieder in Ordnung bringen. Ich sagte mir, ich habe keine Familie mehr, aber warum nicht eine Frau haben, Kinder haben und so weiter, in Europa, wo es besser ist?

Was ist denn das für ein Leben?

Als ich 1500 Euro zusammenhatte, überquerte ich die Grenze nach Marokko. Es ist keine richtige Grenze wegen den Problemen zwischen Marokko und Algerien. Da gibt es nur verschiedene Camps. Und du musst durch das Gestrüpp gehen, um zu vermeiden, dass sie dich sehen. Wir gingen, gingen, gingen. Meine Füsse, meine Beine, alles war verletzt. Die Sohle löste sich von meinem linken Schuh. Also musste ich meinen Fuss mit meinem T-Shirt einwickeln. Er blutete bereits. Ich fragte mich, was ist das denn für ein Leben? Mit all den Stacheln überall. Ich war todmüde, ich schwitzte, die Sonne wurde immer heisser, wir gingen, gingen, gingen.

In Marokko ging ich nach Rabat. Und allmählich verbrauchte ich mein Geld. Denn hier gibt es keine Arbeit. Ehrlich gesagt, hier ist die Misere. Ich sah Leute, die gezwungen waren, zu betteln, nur um ihre Kinder zu ernähren. Das tat mir weh. Und ich sagte mir, ich muss hier weg. Ein Ivorer sagte mir, manche würden ein Zodiac3 und einen Motor kaufen. Es koste 1000 Euro pro Person und gehe etwa fünf Stunden bis Spanien. Ich fragte, ob wir Schwimmwesten tragen, aber er sagte, es gebe keine Schwimmwesten. Manche ertränken und blieben im Wasser. Ich schwöre dir, an dem Abend, ich weiss noch, wir sassen auf dem Sofa und schauten fern, in dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich sah das Meer, die Wellen, all das. Also sagte ich mir, ich werde eine andere Möglichkeit suchen.

Aber nach einigen Wochen hörte ich von sieben Leuten, die es geschafft haben. Sie ruderten mit einem Zodiac nach Ceuta4. Und ich sagte mir, ich bin bereit, ich will nach Spanien, und wenn ich dabei sterbe, dann sterbe ich eben. Ich kam in Kontakt mit ein paar Leuten, die noch jemanden suchten, damit sie schneller sind beim Rudern. Wir trafen uns, jeder zahlte 700 Euro, wir kauften ein Zodiac und fuhren mit dem Car nach Castillejos. Dort versteckten wir uns im Wald auf dem Berg und am frühen Morgen schlichen wir zum Meer hinunter. Wir pumpten das Boot auf und schoben es ins Wasser. Aber in dem Moment, als wir ins Meer stechen wollten, kamen die Soldaten5 und umzingelten uns. Sie sagten: «Heute habt ihr kein Glück!»

«Soll Europa euch durchfüttern?»

Ich weiss, dass es Gott gibt, aber dieses Mal hat er sein Kind im Stich gelassen. Aber ich behielt den Glauben. Denn wenn ich den Glauben verloren hätte, hätte ich den Kopf verloren. 700 Euro sind gerade einfach so ins Wasser gefallen. Ich konnte es nicht glauben. Aber die Soldaten führten uns zu einem Haus. Wir mussten uns auf die Brust legen. Sie hatten dicke Holzknebel. Sie schlugen uns in die Rippen und prügelten auf uns ein. Sie schrien uns an. «Was sucht ihr hier? Wer brachte euch hierher? Eh? Ihr seid hier nicht zuhause! Geht nachhause! Was wollt ihr in Europa? Eh? Soll Europa euch durchfüttern?» Sie beschimpften uns und droschen auf uns ein. Der Kleinste wurde ohnmächtig. Sie warfen ihn zur Seite. Und ich fragte mich, ob er das wohl überlebt. Aber sie prügelten einfach weiter auf uns ein. Wir versuchten, davonzukriechen. Wir baten sie um Verzeihung. Aber sie sagten: «Wir werden euch nach Oujda6 bringen! Dann werdet ihr sehen, wer hier das Sagen hat! Dreckige Neger, wir brauchen euch nicht! Wenn es uns hier schlecht geht, dann ist das euretwegen!» Ehrlich, bis heute kann ich diese Geschichte nicht vergessen. Und wenn ich einmal ein Kind habe, ich werde ihm sagen: Du musst dich durchschlagen im Leben. Alles, was auf dich zukommt, ist hart. So ist das Leben. Was dein Vater gesehen hat, ist mehr als der Tod.

Irgendwann kam ein Kastenwagen und sie brachten uns alle rein. Sie sperrten uns zwei Tage lang in eine Zelle. Dann fuhren sie uns an denselben Ort, an dem ich nach Marokko gekommen bin. Spät in der Nacht. Mitten im Nichts. Du wartest dort, bis sie weg sind. Dann gehst du den ganzen Weg zu Fuss zurück bis zu einer Bahnstation, wo die Güterzüge langsamer fahren, sodass du aufspringen kannst. Ich landete in einem Wagen voller Schafe und versteckte mich dazwischen.

Als ich wieder hier war, habe ich lange überlegt, was ich jetzt tun soll. Mein Geld war dahin. Wie willst du hier in Marokko 700 Euro verdienen? Ich bin seit fünf Jahren hier. Manchmal arbeite ich auf Baustellen, das reicht gerade, um mein Zimmer zu bezahlen und etwas zu essen. So geht es uns. Wir leben in Slums. Es gibt ständig Überfälle auf Schwarze. Das Leben ist nicht leicht für uns. Aber dir bleibt nichts anderes übrig. Du musst es annehmen und versuchen, dich durchzuschlagen. Und immer wieder lachen, um die Probleme zu vergessen. Das ist alles, was du hier tun kannst. Aber wir sagen immer, Gott sei Dank. Denn wir sind noch am Leben. Du darfst den Kopf nicht hängen lassen. Eines Tages werde ich nach Europa kommen. Das ist alles, was in meinem Kopf ist. Selbst wenn ich schlafe, denke ich daran. Denn hier, was kann ich hier tun? Und in Côte d’Ivoire? Meine Familie ist tot. Ich habe dort nichts mehr. Also bin ich dazu verurteilt, den Kampf weiterzuführen. Ich weiss nicht, wann mein Leben aufhören wird. Aber bis dann werde ich versuchen, das Meer zu überqueren und diese Misere hier zu verlassen. Das ist meine Entscheidung. Denn es gibt ein Sprichwort bei uns, das sagt, solange man lebt, hat man immer Hoffnung. So ist das. Erst wenn du nicht mehr lebst, weisst du, dass dein Leben zu Ende ist, bon, da musst du nichts mehr hoffen.

Johannes Bühler: «Am Fusse der Festung. Begegnungen vor Europas Grenze». Schmetterling Verlag. Stuttgart 2015. 304 Seiten. 27 Franken.

1) Es handelte sich um ein Massaker von Regierungstruppen an Familien in Abidjan, die aus dem Norden des Landes stammten. Von 2002 bis 2007 befand sich Côte d’Ivoire in einem Bürgerkrieg. Rebellengruppen aus dem Norden bekämpften die aus dem Süden stammende Regierung.

2) Bordj, offiziell Bordj Badji Mokhtar, ist eine abgelegene algerische Stadt in der Wüste an der Grenze 
zu Mali. Sie ist ein Knotenpunkt für Reisende auf der Wüstenroute von Mali nach Marokko.

3) Zodiac ist ein französischer Schlauchboothersteller, nach dem die für die Überfahrt verwendeten Schlauchboote benannt werden.

4) Ceuta ist eine spanische Enklave an der Mittelmeerküste Marokkos. Seit Jahren versuchen Flüchtlinge und Migrierende, die mit Stacheldrahtzäunen geschützte Grenze zu überklettern, 
zu umschwimmen oder mit Schlauchbooten zu umfahren, um auf europäischen Boden zu gelangen.

5) Die Soldaten der Forces Auxiliaires sind eine paramilitärische Einheit, die rechtlich den Streitkräften untersteht, aber vom Innenministerium befehligt wird. Sie übernehmen die «Migrationsbekämpfung» an der Küste.

6) Oujda ist eine marokkanische Stadt an der Grenze 
zu Algerien. Dreissig Kilometer von der Stadt entfernt werden regelmässig unerwünschte Reisende 
im kargen Ödland an der Grenze ausgesetzt.

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