Fahrende: «Jetzt geht es darum, unsere Rechte einzufordern»

Nr. 22 –

Durchgangsplätze verschwinden, Standplätze sind zu klein, Familien sehen sich zu Trennungen gezwungen. Mit der Besetzung des Zürcher Hardturmareals machen Jenische auf ihre zunehmend prekäre Situation aufmerksam.

«Das also ist die Realität.» Frédéric Birchler faltet vor seinem Familienwohnwagen eine Schweizer Landkarte aus. «Schauen Sie», fährt er fort und zeigt auf die roten Punkte: «Für über 3000 Reisende in der ganzen Schweiz gibt es gerade mal 11 Stand- und 17 Durchgangsplätze.» Die Liste mit 44 Durchgangsplätzen, die das Bundesamt für Kultur bis vor kurzem auf seiner Website aufführte, sei falsch. «Darauf wurden auch nicht offizielle Plätze aus der Vergangenheit berücksichtigt. Inzwischen hat das Bundesamt unsere Liste akzeptiert.»

Eine neue Generation

Birchler arbeitet als Maler und Spengler. Zudem ist er Vizepräsident der Bewegung Schweizer Reisende und einer der InitiantInnen der Besetzung des Hardturmareals im Zürcher Industrieviertel. Als solcher hat er zwar nichts dagegen, namentlich in der Zeitung erwähnt zu werden, er will aber nicht unbedingt fotografiert werden: «Als Familienvater kann ich es mir nicht leisten, Aufträge zu verlieren.»

Seit Anfang Mai wohnen um die hundert Jenische in dreissig bis vierzig Wohnwagen auf dem Areal des einstigen Fussballstadions. Die Konstellation ändert sich fast täglich: Derweil an einem Abend ein Zug mit mehreren Wohnwagen weiterzieht, fahren am nächsten Tag andere Familienwohnwagen ein.

An diesem Pfingstwochenende sitzt die eine oder andere Familie vor ihrem Wagen beim Abendessen. Kinder drehen auf dem Teer mit Rollbrettern, Velos und Minibikes ihre Runden, andere sind in Schulaufgaben vertieft.

Frédéric Birchler macht einen lockeren Eindruck. Man spürt aber auch seine Angespanntheit. Dass Fahrende sich gezwungen sehen, mitsamt ihren Kindern unbewilligt Plätze zu besetzen, ist relativ neu. Die Tatsache, dass seit einigen Jahren Stand- und Durchgangsplätze von der Landkarte verschwinden, hat vor allem jüngere Jenische politisiert. Im November 2013 gründeten sie die Bewegung der Schweizer Reisenden. Erste grössere Aufmerksamkeit erregten sie mit der Besetzung der Allmend in Bern im April 2014. Die brutale polizeiliche Räumung und die darauffolgende Berichterstattung führten zu einer Taskforce des Bundesamts für Kultur (BAK; siehe WOZ Nr. 24/2014 ).

Die Bewegung der Schweizer Reisenden verfolgt zwar ähnliche Interessen wie die etablierte Fahrendenorganisation Radgenossenschaft der Landstrasse, die vom Bund subventioniert wird. Strategisch aber geht sie andere Wege. «Das BAK wollte uns mit 50 000 Franken unterstützen, da haben wir dankend abgelehnt», sagt Birchler. «Wir lassen uns nicht kaufen. Wir wollen frei sein und mit unseren Mitteln unsere Rechte einfordern. Von administrativen Leerläufen haben wir genug – deshalb nehmen wir auch nicht mehr an den Gesprächen in der Taskforce teil.»

So traumatisch die gewaltsame Räumung auf der Berner Allmend auch gewesen sei: «Die mediale Empörung über den unverhältnismässigen Polizeieinsatz hat immerhin dazu geführt, dass im Kanton Bern innert drei Wochen zwei provisorische Durchgangsplätze eröffnet wurden – inzwischen sind es fünf.»

Landesweit aber geht der Kampf weiter. In Kantonen wie Basel-Stadt oder Solothurn, wo fahrende Familien ebenfalls Areale besetzen, wird derzeit erneut mit Räumungen gedroht (siehe WOZ Nr. 18/2015 ). Und auch in Zürich, so liess der Stadtrat verlauten, sollen die BesetzerInnen Mitte Juni das Areal verlassen.

Kantone in der Pflicht

Auf der anderen Seite des Hardturmareals hat sich die Grossfamilie M. bis auf weiteres gleich mit mehreren Wohnwagen niedergelassen. «Es ist ja nicht so, dass wir Reisenden gratis wohnen», sagt David M., während er einen Wasserschlauch repariert: «Wir sind nicht nur ganz normale Steuerzahler – wir zahlen auch anständige Platzmieten. Im Durchschnitt kostet ein Tag auf einem Stand- und Durchgangsplatz fünfzehn Franken pro Wohnwagen. Hinzu kommen die Kosten für Strom- und Wasseranschluss oder die Benutzung von Toilettenkabinen und Abfallcontainern.»

Elf Stand- und siebzehn Durchgangsplätze in der ganzen Schweiz – für die rund 3000 Jenischen, die als Reisende unterwegs sind, ist das bei weitem zu wenig. Zumal die Plätze meist zu klein sind – vor allem im Sommer, wenn auch Transitreisende aus Frankreich, Italien und Deutschland durch die Schweiz fahren. Laut einem Gutachten der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende aus dem Jahr 2010 wären mindestens vierzig Stand- und achtzig Durchgangsplätze notwendig. Ansonsten würde es für viele Reisende immer schwieriger, ihre Lebensweise und damit verbundene Erwerbsarbeiten (wie etwa in der Restauration, im Alteisenrecycling, im Gastroservice oder im Handel mit Textilien) weiterzuführen.

Im Raumplanungsgesetz des Bundes ist zwar festgeschrieben, dass jeder Kanton ein gewisses Kontingent an Durchgangsplätzen für die Zeit von April bis November und an Standplätzen für die Wintermonate zur Verfügung stellen muss. Konkrete Mindestzahlen jedoch sind dabei nicht definiert.

So auch nicht im Kanton Zürich, wo die zwei einzigen Durchgangsplätze, die über mehrere Monate genutzt werden können, schlicht unzumutbar sind. «Speziell auch für die Kinder», wie Frédéric Birchler betont. «Der Platz in Wädenswil befindet sich unmittelbar neben einem offenen Sextreff, jener in Oberwinterthur neben einer Kehrichtverbrennungsanlage mit nickelhaltigen Giftstoffemissionen. Andere Plätze im Kanton sind weitgehend unbenutzbar, weil sie wegen anderer Anlässe nur für wenige Wochen im Jahr benutzt werden können.»

Mit dem Richtplan 2014 hat der Kanton nun auch der Stadt Zürich den Auftrag erteilt, neue Plätze einzurichten. Derzeit existiert in der Stadt kein einziger Durchgangsplatz. Die BesetzerInnen fordern von der Stadt daher fürs Erste einen provisorischen Durchgangsplatz. «Allein im Kanton Zürich», sagt Birchler, «bräuchte es zusätzlich mindestens fünf Durchgangs- sowie drei Standplätze à 20 bis 25 Stellplätze.»

Und der politische Wille?

Eigentlich würde man meinen, dass sich die Situation seit 1973, nach der Auflösung des sogenannten Hilfswerks «Kinder der Landstrasse», das im Auftrag von Pro Juventute jenischen Fahrenden ihre Kinder weggenommen hatte, verbessert haben sollte. Zumindest in seiner Kindheit in den frühen neunziger Jahren, erinnert sich Frédéric Birchler, seien die Umstände, verglichen mit heute, besser gewesen. «Damals waren wir noch nicht derart auf offizielle Plätze angewiesen. Unser Vater ist losgefahren, ging kurz auf die Gemeinde, und dann führte uns der Gemeindepräsident auf einen Platz. Wir waren willkommen», erzählt der 29-Jährige. «Heute hingegen dürfen wir zwar durch die Schweiz reisen – aber kaum mehr anhalten. Ausser auf den wenigen offiziellen Plätzen, die oft unzumutbar sind. Allein für den Standplatz bei Fribourg, wo wir jeweils überwintern, sind 170 Familien auf der Warteliste – und das bei 22 Plätzen!»

Der Grund für den zunehmenden Platzmangel liegt gewiss auch in den vielen Überbauungen. Gerade in den Agglomerationen ist der Nutzungsanspruch stark gestiegen. Viele Zonen, in denen bis vor einigen Jahren noch Durchgangsplätze lagen, sind inzwischen überbaut. Doch auch der politische Wille hält sich in engen Grenzen. Das ist umso schlimmer, als der Mangel an Plätzen fatale Auswirkungen hat: Grössere Familien werden auseinandergerissen, Jenische in Wohnungen verdrängt und in eine fremde Lebensform gezwungen. «Unsere Kultur basiert aber nun mal auf der Reise», sagt Birchler. Schon heute sind von den rund 35 000 Jenischen in der Schweiz nur noch etwa zehn Prozent als Fahrende unterwegs.

Beim Standplatz in Zürich Seebach lässt sich beobachten, wohin der Mangel an Durchgangsplätzen führt: Immer mehr Jenische bleiben immer länger auf Standplätzen: «Wenn wir nicht mehr genügend Durchgangsplätze haben, sind wir irgendwann dazu gezwungen, uns an einem festen Ort anstellen zu lassen. Ich war mal 21 Monate auf dem gleichen Standplatz im Freiburgischen – irgendwann habe ich es kaum mehr ausgehalten.» Und auch jetzt, nach drei Wochen auf dem Hardturmareal, würde er lieber weiterziehen. «Die Kinder fragen schon: Wann fahren wir? Wir leben das Reisen – das ist mehr als nur Fahren.»

Keine Angst vor dem Zirkus

Vor zwei Wochen hat nun das städtische Tiefbau- und Entsorgungsamt von der Stadtregierung als Reaktion auf die Hardturmbesetzung den Auftrag erhalten, einen provisorischen Durchgangsplatz zu suchen. Gegenüber dem «Tages-Anzeiger» sagte der zuständige Stadtrat Filippo Leutenegger, dass die Jenischen bis zum 15. Juni bleiben dürfen. Dann wird der Circus Royal seine Zelte auf dem Hardturmareal aufstellen. «Wir möchten bis dann eine Alternative anbieten», sagt nun Pio Sulzer vom Tiefbauamt. Ob das klappe, sei aber ungewiss – freie Grundstücke in der Bauzone seien Mangelware. Oliver Skreinig, der Direktor des Circus Royal, hat auf dem Regionalsender Tele Top bereits verlauten lassen, dass er gegen einen gemeinsamen Gebrauch des Areals mit den Reisenden ist.

Was aber, wenn bis dahin kein anderer provisorischer Durchgangsplatz zur Verfügung steht? «Wir werden bleiben. Und zwar so lange, bis die Forderung erfüllt ist», sagt Birchler und faltet die Karte wieder zusammen. «Seit siebzehn Jahren fordert der Bund, dass die Stadt Plätze zur Verfügung stellt – es ist nichts passiert. Jetzt fordern wir unsere Rechte ein.»

Das Recht auf angemessene Plätze : Langfristige Lösungen angestrebt

Seit 1998 werden Schweizer Jenische und die kleinere Gruppe der Schweizer Sinti offiziell als nationale Minderheit anerkannt. 2003 hat das Bundesgericht das Recht der Fahrenden auf angemessene Halteplätze ausdrücklich anerkannt.

Das Raumplanungsgesetz verpflichtet zwar jeden Kanton, der fahrenden Lebensweise Rechnung zu tragen. Ein Kontingent ist aber nirgends beziffert. «Der Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2003 ist die effektivste Grundlage, die der Bund gegenüber den Kantonen ins Feld führt», sagt Fiona Wigger, die beim Bundesamt für Kultur für das Dossier der Fahrenden zuständig ist: «Fehlen Regelungen für Stand- und Durchgangsplätze in den kantonalen Richtplänen, hat der Bund allerdings keine Möglichkeit, diesen Richtplan zurückzuweisen.»

Die Finanzierung der Plätze liegt bei den Kantonen und Gemeinden. Mit jährlich 150 000 Franken subventioniert der Bund zwar die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, davon wird aber nur ein kleiner Teil für die Infrastruktur von Plätzen eingesetzt.

Im Kanton Zürich arbeitet die Baudirektion derzeit auf der Basis des neuen Richtplans am Konzept «Fahrende Kanton Zürich». Dabei wird geklärt, wie bestehende Plätze langfristig gesichert und zusätzliche evaluiert werden können. Neben den bestehenden vier Stand- und acht Durchgangsplätzen sind zusätzlich ein Standplatz und fünf Durchgangsplätze vorgesehen.

Einen Termin aber kann die Baudirektion nicht nennen. Noch sei zu klären, was der richtplanerische Auftrag konkret bedeutet. Provisorische Durchgangsplätze strebt der Kanton keine an, er fokussiert auf langfristige Lösungen. Möglich sei höchstens, «dass die Fahrenden in Absprache mit den Gemeinden provisorische Lösungen finden».

Adrian Riklin

Was weiter geschah: Nachtrag vom 9. Juli 2015 : Durchgangsplatz in Zürich

Im Kampf um mehr Durchgangs- und Standplätze für Fahrende bewegt sich etwas. Zu verdanken ist das vor allem der Bewegung Schweizer Reisende, die im März 2014 von Fahrenden gegründet wurde. Erstmals auf den chronischen Mangel an Durchgangsplätzen für die über dreitausend Fahrenden in der Schweiz aufmerksam machte die Bewegung im April vor einem Jahr mit der Besetzung der Berner Allmend.

Eine zweite Besetzung begann diesen Mai auf dem Areal des ehemaligen Hardturm-Fussballstadions in Zürich. Damit lenken die rund dreissig jenischen Familien den Blick auf die prekäre Situation im Kanton Zürich – insbesondere in der Stadt. Wenige Tage bevor der Circus Royal auf das Gelände zieht, hat nun der zuständige Stadtrat Filippo Leutenegger (FDP) bekannt gegeben, dass nördlich des Altstettener Bahnhofs auf einer der wenigen städtischen Landreserven ein provisorischer Durchgangsplatz bis 2017 gefunden worden ist. Stadt und VertreterInnen der Fahrenden haben dieser Tage eine Nutzungsordnung unterschrieben.

Nun hoffen die Fahrenden, dass der Kanton bis 2017 einen langfristigen Durchgangsplatz in der Stadt bereitstellt. Der Kampf geht weiter: Landesweit stehen den Fahrenden derzeit gerade mal elf Stand- und siebzehn Durchgangsplätze zur Verfügung. Laut der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende wären mindestens vierzig Stand- und achtzig Durchgangsplätze notwendig.

Adrian Riklin