Flüchtlingstreck: Von Zäunen und Zügen

Nr. 47 –

Täglich sind Tausende auf der Balkanroute quer durch Europa unterwegs. Wo vor wenigen Wochen alles notdürftig improvisiert war, sind institutionalisierte Strukturen entstanden.

«In Bewegung bleiben»: Ein slowenischer Polizist inspiziert am Bahnhof von Dobova einen Zug, in dem Geflüchtete in Richtung Österreich weiterreisen.

Getaucht in die warmen Sonnenstrahlen des ungewöhnlich milden Novembertages wirkt die Szenerie skurril. Vor dem Duty-free-Shop an der kroatisch-slowenischen Grenze bei Rigonce werben riesige zylinderförmige Banner mit der Aufschrift «Travel Free» für Reisefreiheit. Nebenan stehen vermummte PolizistInnen mit kugelsicheren Westen gelangweilt herum. Wenige Meter weiter glitzert Nato-Stacheldraht in der Sonne.

Dieser Tage haben Zäune in Europa wieder Hochkonjunktur. Vor Wochen hatte Ungarn vorgelegt. Am 11. November hat Slowenien an der Grenze zu Kroatien mit dem Bau begonnen, nur wenige Stunden später ist der Grenzzaun mehrere Kilometer lang. Die Zäune von heute sind schnell errichtet. Zwei Tage später zog Österreich mit einem rund vier Kilometer langen Zaunabschnitt an der Grenze zu Slowenien nach. «Bei Bedarf», wenn also Slowenien zu viele Flüchtlinge schickt, kann dieser «innerhalb von 48 Stunden» erweitert werden. Diese «technischen Barrieren», wie die PolitikerInnen sie nennen, sollen den Flüchtlingstreck durch Europa «kontrollieren».

Wer oder was genau kontrolliert werden soll, ist nicht klar. Noch vor wenigen Wochen mussten Geflüchtete vom kroatischen Harmica mehrere Kilometer ins slowenische Aufnahmezentrum marschieren. Seit die Züge aus Kroatien den Bahnhof von Dobova direkt anfahren, hat in Harmica kaum noch ein Flüchtling die Grenze passiert. Der neue Zaun ist wenig mehr als ein Symbol. Errichtet, um die Handlungsfähigkeit und Macht der Politik zu demonstrieren.

Dobova: ständiger Lernprozess

Am Bahnhof von Dobova sind bis zur Mittagszeit fast 1000 Flüchtlinge angekommen, manchmal sind es pro Tag 12 000. Dicht gedrängt warten die Männer, Frauen und Kinder geduldig auf dem stillgelegten Perron auf die Weiterreise. Richtig geschlafen haben viele schon eine Weile nicht mehr. Die meisten werden durchsucht und von der Polizei registriert, einige in den umliegenden Camps. Mehr als ein paar Stunden bleibt kaum jemand. Die Lage ist unübersichtlich: HelferInnen der grossen Organisationen eilen umher, verteilen Winterjacken, Schuhe und Plastiktüten mit Essen. Ein Mitarbeiter der Uno-Flüchtlingshilfe ruft arabische Namen durch ein Megafon. Namen von Familienmitgliedern, die vermisst werden. Polizei und Militär treiben die Menschen zusammen, herrschen sie an, wenn Anweisungen nicht befolgt werden. Weil es nur wenige DolmetscherInnen gibt, läuft die Kommunikation oft harzig.

Auch Chalid Ali wartet hier auf seine Weiterreise. Der 23-Jährige ist, wie viele hier, auf dem Weg nach Deutschland. Sieben Tage war der Syrer bis Slowenien unterwegs, jetzt will er möglichst schnell weiter. «In Deutschland habe ich schon einen Studienplatz», erzählt Ali. Dreimal habe er sich seit seiner Flucht aus Damaskus um ein Visum bemüht. Vergeblich. «Jetzt versuche ich es eben so», sagt er lachend. Gerade will er ein Video aus «dem schrecklichen Camp» in Serbien zeigen, als der Tross sich in Bewegung setzt. Der Zug zur österreichischen Grenze ist gerade eingefahren. «Ist das unserer?», fragt Ali ratlos. «Die erklären uns hier nichts.» Dann ist er auch schon in der Menschenmenge verschwunden.

Draussen vor den Absperrungen steht Sandor Acs vor dem Zelt einer Hilfsorganisation. Der 27-Jährige ist vor drei Tagen aus Ungarn angereist, um zu helfen. Immer wieder kommen andere MitarbeiterInnen ins Zelt und verschwinden wieder, bepackt mit Kleidung und Schuhen. «Verglichen mit den katastrophalen Zuständen der vergangenen Wochen läuft es gut», sagt Acs.

Über 200 000 Geflüchtete haben Slowenien seit Anfang Oktober durchquert. Eine Situation, mit der die Behörden in dem Zwei-Millionen-EinwohnerInnen-Land zu Beginn sichtlich überfordert waren. In der nahe gelegenen Sammelstelle in Brezice mussten Flüchtlinge bei Temperaturen knapp über null auf der Erde übernachten, bekamen weder Essen noch Wasser noch eine medizinische Versorgung. «Wir hatten keinerlei Erfahrung, als wir hier anfingen», sagt Polizeisprecher Robert Perc entschuldigend. Inzwischen laufe die Kooperation mit Kroatien besser. «Früher gaben die Kroaten uns keine Informationen durch, inzwischen wissen wir, wann der Zug kommt, und können uns vorbereiten», so Perc. Auch von den HelferInnen habe man viel gelernt. Dass hier ein Lernprozess stattgefunden hat, ist offensichtlich.

Stolz berichtet der Beamte vom neuen winterfesten Camp mit beheizten Zelten mit Holzböden. Und davon, dass hier kaum noch ein Schlepper gesichtet wurde, seit es die Zugverbindung gibt. «Für die Flüchtlinge ist es am besten, in Bewegung zu bleiben», sagt Perc dann noch zum Abschied.

Spielfeld: Dublin ausser Kraft

1,5 Stunden dauert die Autofahrt bis zur österreichischen Grenze. Ein weiterer Umschlagplatz auf dem Weg über den Kontinent. Auf der slowenischen Seite kommt der Zug aus Dobova an, über den Grenzkorridor schleusen Dutzende PolizistInnen und Soldaten mehrere Tausend Flüchtlinge am Tag vom Camp in Sentilj ins benachbarte Spielfeld. Auch in dem österreichischen Grenzort bleiben die meisten nur wenige Stunden. Per Funk wird durchgesagt, wie viele die Grenze passieren dürfen. In Fünfzigergruppen werden die Menschen dann durch ein Labyrinth aus Absperrungen geleitet – immer so viele, wie in einen der Busse passen, der sie im Stundentakt weiter in Richtung Deutschland bringt.

In Sentilj steht eine Gruppe Jugendlicher um die mobile Handyladestation. «Sie behandeln uns hier in Slowenien wirklich gut, schreiben Sie das», ruft ein junger Mann, als er die Reporterin erblickt. Serbien sei die Hölle gewesen; er habe tagelang im Freien campieren müssen, sei von der Polizei verprügelt worden. «Bevor ich dorthin zurückmuss, geh ich wieder nach Syrien.»

Vor dem Camp in Spielfeld hängt ein Plakat mit der Aufschrift «Busabfertigung». Die Bezeichnung passt. Doch wer die Bilder der vergangenen Wochen im Kopf hat, als die Menschen stundenlang über Feld und Wiesen wanderten, muss zugeben: Angesichts der zuvor so prekären Lage ist diese Massenabfertigung ein Erfolg. Für die Politik des Durchwinkens mussten die Länder auf der Balkanroute zuletzt heftige Kritik aus Brüssel und Berlin einstecken. Doch während in beheizten Sitzungszimmern noch diskutiert wird, sind hier aus der Not heraus Lösungen entstanden, die einen entscheidenden Umstand anerkennen: dass der Flüchtlingstreck ungeachtet jeder Abschreckungsrhetorik in Bewegung bleibt.

Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Aktion zeigt sich auch in Gesprächen mit den Einsatzkräften: Auf die Frage nach dem Dublin-Verfahren, das etwa Deutschland Ende Oktober wieder in Kraft gesetzt hat, ist meistens ein müdes Achselzucken die Antwort. «Sie sehen doch, was hier läuft», sagt etwa der Polizist, der durch das Camp in Spielfeld führt. «Für politische Antworten rufen Sie in Wien an – oder am besten gleich in Brüssel.» Eine Frage treibt dieser Tage dennoch viele um: Was passiert, wenn Deutschland niemanden mehr aufnimmt? «Das wollen wir uns gar nicht ausmalen», so der Beamte.

Freilassing: Schlechte Kommunikation

Seit Deutschland die Grenzen wieder kontrolliert, stauen sich am Übergang nach Freilassing die Autos. Einige Meter von der Landstrasse entfernt führt ein Veloweg über die Salzach. Vom Salzburger Bahnhof werden die Flüchtlinge in von den Behörden bereitgestellten Bussen hierher gefahren. In Zehnergruppen überqueren sie den Fluss, werden auf der anderen Seite von deutschen BeamtInnen durchsucht und in Polizeibussen ins Camp gebracht, das einst eine Möbelhalle war. Nach der Registrierung geht es weiter an den Bahnhof, von wo aus täglich zwei Züge Orte in ganz Deutschland anfahren. «Einmal kam hier einer an und fragte, ob er in der Schweiz sei. Der ist wohl einmal falsch abgebogen», scherzt eine bullige Polizistin mit Berliner Dialekt. Auch am Grenzübergang Freilassing ist eine Ordnung entstanden, wo es vor wenigen Wochen keine beheizten Zelte und nur vereinzelt HelferInnen gab.

Beinahe am Ziel: Flüchtlinge warten am Bahnhof von Freilassing auf den Zug, der sie ins Erstaufnahmezentrum bringen soll.

Vor der Leibesvisitation wird eine hochschwangere Frau von ihrem Mann getrennt. Derweil er von einem Beamten unwirsch zurechtgewiesen und weitergescheucht wird, soll sie auf einer Bank vor dem Zelt Platz nehmen. Keiner der PolizistInnen erklärt der jungen Kurdin mit dem fragenden Blick die Situation. Neben dem stundenlangen Warten ist die Sprachbarriere eine der grossen Herausforderungen auf der Route.

Am Bahnhof ist einer der Polizeibusse angekommen. Ordentlich aufgereiht warten die Flüchtlinge auf den Zug. Etwas abseits auf dem Perron steht Farid Ali. Fragend richtet er den Blick auf die PolizistInnen, die rauchend herumstehen und keine Notiz von dem Jungen nehmen. Seine Familie sei noch im Camp, erzählt der Fünfzehnjährige voller Sorge. «Das ist Standard», schaltet sich einer der umstehenden PolizistInnen genervt ins Gespräch ein. «Die machen hier aus einer Mücke einen Elefanten.» Er hat kein Interesse daran, zu helfen. Sein Vater werde sicher nach ihm suchen, glaubt Ali. Er hat Angst, dass der Zug ohne seine Familie losfährt. Als ein Beamter schliesslich anbietet, den Jungen zurück ins Camp zu bringen, fährt erneut ein Polizeibus vor. Als der syrische Jugendliche seine Familie erblickt, rennt er los. Dann reihen auch sie sich in die Polizeikontrollen ein.

Damit sich auseinandergerissene Familien wiederfänden, werde eine Passagierliste geführt, die Flüchtlinge einzeln fotografiert. «So weiss man, wer in welchem Aufnahmezentrum landet», wird Polizeisprecher Jano Siepel später sagen. Auf die Frage, warum keine ÜbersetzerInnen vor Ort sind, weiss er keine Antwort.

Derweil ein Zaun nach dem anderen hochgezogen und auf Regierungsebene immer lauter von Barrieren geredet wird, hat sich der Flüchtlingstreck auf der Route selbst längst eigene Tatsachen geschaffen. Zwar weiss hier keiner, was als Nächstes passiert. Wo heute ein Korridor ist, kann morgen die Grenze schon wieder dicht sein. Doch im Europa dieser Tage stehen nicht nur Zäune. Es fahren auch Züge.