Fussball und andere Randsportarten: Schwalbenflug im März

Nr. 11 –

Fussballornithologie mit Pedro Lenz

Miralem Sulejmani ist ein herausragender Fussballer, schnell, trickreich und torgefährlich. Der Serbe kam 1988 in Belgrad zur Welt und erlebte als Kind die Bombardierung seiner Heimatstadt. Weil er etwas kleiner und leichter war als seine Altersgenossen, lernte er früh, fehlende Körperkraft mit Technik und Spielintelligenz zu kompensieren. Schon mit siebzehn spielte Sulejmani bei den Profis in der ersten Mannschaft von Partizan Belgrad. Danach führte ihn sein Weg über den niederländischen SC Heerenveen, Ajax Amsterdam und Benfica Lissabon zu den Berner Young Boys.

Wir YB-Fans freuen uns jeweils, wenn Sulejmani auf dem Kunstrasen des Stade de Suisse die Abwehrreihen der Gegner durcheinanderwirbelt. So war es auch am letzten Sonntag. Der FC Sion lag in Führung, als Sulejmani im gegnerischen Strafraum alleine vor Sion-Torhüter Andris Vanins an den Ball kam, die Kugel links am Goalie vorbeispitzelte und drauf und dran war, aufs leere Tor zuzulaufen.

Vanins, der 1980 in der damaligen Sowjetrepublik Lettland zur Welt kam und seit 2009 beim FC Sion spielt, hechtete vergebens nach dem Ball. Vielleicht berührte er den YB-Spieler dabei mit den Fingerspitzen am rechten Knie oder am linken Fuss. Falls es eine Berührung gab, muss sie sehr leicht gewesen sein. Aber im Fussball genügt zuweilen eine kaum merkliche Berührung, um jemanden aus dem Gleichgewicht zu bringen. In unserer Geschichte war es Miralem Sulejmani, der aus dem Gleichgewicht kam, kaum einen halben Schritt weiterlaufen konnte und bäuchlings zu Boden fiel.

«Benouti! Benouti!», riefen wir YB-Fans voller Inbrunst und in der Aussprache jener fernen Kindertage, in denen uns noch nicht bewusst war, dass es sich um ein englisches Wort handelt, das eigentlich «Penalty» heisst.

Der Schiedsrichter erhörte unser Flehen und verstand unsere Kindersprache. Sofort zeigte er auf den Elfmeterpunkt, entschied auf Penalty für YB und eine Rote Karte für den Letten, der unseren Helden von den Beinen geholt hatte. Dank dieses Penaltys konnte YB ausgleichen. Und weil Sion fortan nur zu zehnt spielen konnte, gelang den Bernern kurz vor Schluss gar noch der Siegestreffer.

Weil Andris Vanins und mit ihm das halbe Wallis davon überzeugt sind, dass sich Miralem Sulejmani hat fallen lassen, reden sie jetzt von Skandal. Christian Constantin, der charismatische Präsident des FC Sion, hat gar angedroht, den Schiedsrichter vor ein Zivilgericht zu bringen und ihn des Betrugs anzuklagen.

Ein Stolpern ohne Fremdeinwirkung zur Erlangung eines Vorteils heisst im Fussballjargon «Schwalbe». Nach Studium der Fernsehbilder besagter Spielszene gibt es nun einige Fans, Spieler und Funktionäre des FC Sion, die unserem YB-Star Sulejmani vorwerfen, sein Sturz im Strafraum sei genau dies gewesen: eine Schwalbe.

Allerdings handelt es sich bei der Fussballornithologie um keine exakte Wissenschaft. Deshalb lässt sich die Frage, was tatsächlich eine Schwalbe ist und was eher nicht, kaum je schlüssig beantworten. Für Miralem Sulejmani und für uns YB-Fans war die Berührung des Sion-Goalies am Bein oder Fuss des YB-Stürmers zwar leicht, aber doch real. Und weil die Erdanziehungskraft im gegnerischen Strafraum stärker ist als andernorts, war der Sturz unvermeidlich. Wir sind also überzeugt davon, dass der Penalty gerechtfertigt war und keinesfalls von einer Schwalbe gesprochen werden darf.

«Hört doch auf mit euren Räubergeschichten!», sagt ein Freund aus dem Wallis. «Das war eine sehr deutlich erkennbare Schwalbe!»

Der Freund aus dem Wallis muss sich irren. Das Sprichwort sagt nämlich unzweifelhaft: «Am Tage von Maria Geburt fliegen die Schwalben furt. Marienverkündigung, kommen sie wiederum.» Und Marienverkündigung, so viel wissen wir aus dem Religionsunterricht, ist erst am 25. März.

Pedro Lenz ist Schriftsteller und lebt in Olten. Im nächsten Frühsommer hat er ein paar Leseauftritte mit der Gruppe «Die Schwalbenkönige».