Konflikt um Bergkarabach: Krieg zur Imagehebung

Nr. 15 –

Mehr als zwanzig Jahre nach dem Waffenstillstand wird im Kaukasus wieder gekämpft. Wie kam es zu dieser plötzlichen Eskalation?

Jahrelang blieb die Frontlinie im Konflikt um Bergkarabach unverändert. In den Morgenstunden des 2. April verwandelte sie sich dann plötzlich in ein Kriegsgebiet: Fünf Tage lang beschossen sich armenische und aserbaidschanische Truppen mit Raketenwerfern, auch Kampfhelikopter und bewaffnete Drohnen kamen zum Einsatz.

Es waren die schwersten Gefechte in Bergkarabach seit dem Waffenstillstand vor über zwanzig Jahren. Beide Konfliktparteien schoben sich zwar jeweils die Rolle des Aggressors zu. Doch ein nüchterner Blick auf die Entwicklung zeigt: Die Gewalt eskalierte zwar unvermittelt, aber nicht überraschend.

Vertreibungen und Demonstrationen

Der Konflikt um Bergkarabach ist der älteste auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Bereits Josef Stalin erklärte die kleine Region mit armenischer Bevölkerungsmehrheit 1923 zum «autonomen Gebiet» innerhalb Aserbaidschans. Im Lauf der Jahrzehnte hatten die ansässigen ArmenierInnen immer wieder für mehr Selbstbestimmung gekämpft. Beflügelt von Michail Gorbatschows Perestroika-Reformen, verlangten sie 1988 schliesslich den Anschluss an Armenien.

Daraufhin spitzte sich der Konflikt zu: Auf beiden Seiten wurden AnwohnerInnen vertrieben, antiarmenische Pogrome forderten in verschiedenen aserbaidschanischen Städten zahlreiche Todesopfer. In Armenien bekundeten Hunderttausende an Grossdemonstrationen ihre Solidarität. Derweil formierte sich in Aserbaidschan eine Gegenbewegung, die den Verbleib Bergkarabachs in Aserbaidschan forderte. Die sowjetischen Behörden beschränkten sich auf Vermittlungsversuche, griffen jedoch nicht aktiv ein.

1991 brach die Sowjetunion zusammen. Der bis dahin interne Konflikt weitete sich zu einem Krieg zwischen zwei unabhängigen Staaten aus. Bis zu 50 000 Menschen starben, mehr als eine Million wurden vertrieben.

Petrodollars für Aserbaidschan

Die Führung in Baku war zu diesem Zeitpunkt in einen heftigen Machtkampf zwischen politischer Elite und nationalistischer Bewegung verwickelt. Hejdar Alijew – zu Sowjetzeiten der einflussreichste Politiker des Landes – ging als Sieger hervor: 1993 wählte man ihn zum Präsidenten.

Als Alijew im Mai 1994 schliesslich einen Waffenstillstand unterzeichnete, hatte Armenien die Kontrolle über Bergkarabach und weitflächige Gebiete im Umland erlangt. In den folgenden Jahren fanden intensive Verhandlungen mit Armenien statt, um den Konflikt dauerhaft beizulegen. Alijew bot der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs etwa weiter reichende Selbstbestimmungsrechte an. Im Gegenzug sollte Armenien die besetzten Gebiete aufgeben. Doch der Friedensprozess scheiterte – nicht zuletzt an der Opposition innerhalb der aserbaidschanischen Führung.

Nach dem Tod des Präsidenten erbte dessen Sohn Ilham Alijew 2003 das Amt. Schon vorher hatte der Vater einen Grossauftrag an den Ölkonzern BP vergeben – dieser sollte die Rohstoffförderung am Kaspischen Meer in Gang bringen. Nun stiegen die Ölexporte, die Erlöse daraus flossen nach Baku.

Der neue Präsident investierte das Geld in die Militarisierung des Landes: Zwischen 2003 und 2014 wurde das aserbaidschanische Verteidigungsbudget von 175 Millionen auf 4,8 Milliarden US-Dollar aufgebläht. Damit übersteigt es seit einigen Jahren den gesamten Staatshaushalt Armeniens. Gleichzeitig verschärfte Alijew seine Rhetorik: Sollte Bergkarabach nicht am Verhandlungstisch zurückzugewinnen sein, würde er dies auf militärischem Weg tun.

Derweil kam die Regierung in den vergangenen Jahren vermehrt unter Druck. Die Ölproduktion ist seit 2011 rückläufig, der globale Ölpreisverfall versetzte dem Land 2014 einen zusätzlichen Schlag: Staatliche Einnahmen gingen abrupt zurück, die Landeswährung fiel auf ein Drittel ihres vorherigen Werts. In verschiedenen Städten gingen die Menschen auf die Strasse, um ihrer Unzufriedenheit Gehör zu verschaffen.

Mehr Opfer, grössere Instabilität

Vor diesem Hintergrund ist auch die neuerliche Eskalation zu betrachten. Jahrelang war der Waffenstillstand weitgehend eingehalten worden, obwohl er lediglich von einer kleinen OSZE-Mission überwacht wurde. Erst im Zuge der wachsenden innenpolitischen Spannungen in Aserbaidschan wurden Schusswechsel an der Frontlinie wieder häufiger.

Die aserbaidschanische Armee ging bei ihrer letzten Operation schnell und koordiniert vor, gleich am ersten Tag wurden acht Ortschaften besetzt. Der Vorstoss scheint geplant gewesen zu sein. Die Führung in Baku könnte versucht haben, ihr angekratztes Image durch einen raschen militärischen Erfolg wiederherzustellen.

Aus dem schnellen Sieg wurde jedoch nichts – im Gegenteil: Bereits am ersten Tag starben auf beiden Seiten Dutzende Menschen. Es zeichnete sich ab, dass weitere Kämpfe nur zu mehr Opfern und grösserer Instabilität führen würden. Auf armenischer Seite verloren derweil die BefürworterInnen einer friedlichen Lösung an Rückhalt. In Zukunft könnten Hassreden in der Öffentlichkeit und Kämpfe an der Front weiter zunehmen. Einen zweiten Krieg zu verhindern, wäre unter diesen Voraussetzungen schwierig.

Aus dem Englischen von Raphael Albisser.

Vicken Cheterian ist regelmässiger WOZ-Autor. 2011 ist im Londoner Hurst Verlag sein Buch «War and Peace in the Caucasus. Russia’s Troubled Frontier» erschienen.