«Masseneinwanderung»: Das grosse Gaga-Theater

Nr. 44 –

Derzeit entscheidet das Parlament definitiv über die Umsetzung der «Masseneinwanderungsinitiative». Ein Rückblick auf die Debatte seit dem Ja zur Vorlage im Februar 2014 zeigt: Die SVP hat das Land in ein unwürdiges Polittheater verwandelt.

Die Staatspolitische Kommission des Ständerats berät in diesen Tagen den Inländervorrang «light». Inländervorrang – was?!, werden Sie vielleicht sagen. Vielleicht haben Sie auch schon davon gehört – und vielleicht gehören Sie gar zu den paar wenigen, die seit dem Ja zur «Masseneinwanderungsinitiative» am 9. Februar 2014 penibel zu verfolgen versuchen, wie diese umgesetzt werden soll. Seit damals meldet sich jede Woche in irgendeiner Sonntagszeitung irgendein Politiker, eine Wirtschaftsvertreterin oder ein Experte mit einem Aufreger zu Wort, der dann tagelang von anderen Politikerinnen, Wirtschaftsvertretern oder Expertinnen auf und ab kommentiert wird. Ein Riesentheater.

Für die grosse Mehrheit, die wohl schon lange abgehängt hat: Der Inländervorrang «light» bedeutet, dass Firmen ihre offenen Stellen den regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV) melden müssen, damit inländische Arbeitssuchende einen kleinen Vorsprung auf ausländische KonkurrentInnen erhalten. So will der Nationalrat die «Masseneinwanderungsinitiative» umsetzen. Das hat er im September entschieden, nun ist der Ständerat dran. Was das mit der ursprünglichen Forderung der SVP-Initiative zu tun hat, die Kontingente vorschreibt? Nichts.

Wie es zum Ja gekommen ist

Angefangen hat alles 2011. Drei Jahre nach der grossen Finanzkrise protestierten weltweit junge Menschen für mehr Demokratie und Gerechtigkeit. 2011 war das Jahr, in dem in New York, Madrid oder Athen die Occupy-AktivistInnen ihre Protestcamps in den Stadtzentren errichteten, als in Tunis der Arabische Frühling erwachte und in der Schweiz die Juso ihre 1:12-Initiative einreichte, die die Toplöhne einer Firma auf das Zwölffache der tiefsten Gehälter begrenzen wollte. 2011 war jedoch auch das Jahr, in dem die SVP ihre Initiative gegen die angebliche Masseneinwanderung lancierte.

Am 24. November 2013 wurde die 1:12-Initiative mit 65,3 Prozent Nein-Stimmen versenkt, tags darauf ging der Abstimmungskampf um die «Masseneinwanderungsinitiative» los. Der Wind hatte weltweit gedreht, der Ruf nach Gerechtigkeit war der rechten Hetze gewichen: In Deutschland schimpfte die Rechte gegen «Arbeitsmigranten», in Britannien polterte der damalige Premierminister David Cameron gegen Brüssel, und die Prognosen für die bevorstehenden EU-Wahlen sagten den rechten Hitzköpfen zwanzig Prozent der Stimmen voraus. SVP-Milliardär Christoph Blocher warf gemäss «SonntagsZeitung» drei Millionen Franken in die Kriegskasse, bald hingen in der ganzen Schweiz Plakate mit einem Apfelbaum darauf, der mit seinen Wurzeln die Schweiz zersetzt. Daneben in fetten Lettern: «Masslosigkeit schadet! Masseneinwanderung stoppen».

Im Nein-Lager waren alle anderen Parteien, die Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften sowie der Bundesrat. An einer Pressekonferenz des Bundesrats formulierte ausgerechnet der FDPler Johann Schneider-Ammann die progressive Antwort auf die SVP-Initiative: Statt die Grenzen dichtzumachen, müsse die Schweiz, um die hiesigen Löhne zu schützen, auf starke flankierende Massnahmen setzen. Und seine SP-Kollegin Simonetta Sommaruga warnte, dass – entgegen der Behauptung der SVP – ein Ja zur Initiative die vereinbarte Personenfreizügigkeit verletzen würde, womit sämtliche Wirtschaftsverträge mit der EU verfallen würden. Dies, so Sommaruga, würde die Schweiz in eine tiefe Krise stürzen.

Bald war klar, dass es knapp werden könnte: Während das Nein-Lager die ökonomischen Vorzüge der Personenfreizügigkeit aufzählte, redete das ganze Land plötzlich nur noch von überfüllten Zügen, explodierenden Mieten und Zersiedlung, das Wort «Dichtestress» tauchte auf. Und während man im bürgerlichen Lager vergeblich auf ein Zugpferd gegen die Initiative wartete, erhielt die Initiative auch Support von links: Exnationalrat Rudolf Strahm (SP) schimpfte im «Tages-Anzeiger» gegen die «neoliberale» Personenfreizügigkeit und kokettierte mit der Idee, vielleicht selber Ja zu stimmen. Überhaupt der «Tages-Anzeiger»: Kurz vor Weihnachten publizierte er beispielsweise ein langes Gespräch mit dem reaktionären Schriftsteller Leon de Winter, der «der Schweiz zu einer illusionslosen Einwanderungspolitik» riet.

Am 9. Februar 2014 um 16.30 Uhr stand das Resultat fest: Die Schweiz hatte Ja gesagt.

«Mission impossible»

Die SVP hatte mit der Initiative für ihren Wahlkampf 2011 mobilisieren wollen, den sie bereits unter dem Spruch «Masseneinwanderung stoppen» führte. Den Sieg wünschten sich wohl nur wenige innerhalb der SVP. Schliesslich ist sie die Partei der Wirtschaftsinteressen, die in ihrer Wirtschaftsradikalität etwa bei der Unternehmenssteuerreform III gar die FDP überholt. Der Bruch mit der EU wäre auch für ihre Klientel nachteilig. Wie sich bald zeigte, sollte es jedoch nicht so weit kommen.

Seit dem Sieg vom 9. Februar 2014 hält die SVP das Land in der Zange. Mit dem Sieg hat sie jegliche progressive Politik erstickt, indem sie den anderen Parteien ihr grosses politisches Hauptziel aufzwingt: weniger AusländerInnen. Seither streitet man sich von der SVP bis zur SP nur noch darum, wie dieses Ziel erreicht werden soll.

An vorderster Front der Bundesrat. Im Sommer 2014 schickte er der EU einen Brief mit dem Wunsch, die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln, so wie es die Initiative verlangt. Ein vollkommen absurdes Unterfangen. Alle wissen: Die Personenfreizügigkeit ist für die EU heilig, sie wird hier niemals nachgeben. Doch was sollte Justizministerin Sommaruga anderes tun, als sich wie eine vorbildliche SVPlerin zu benehmen? Aus Respekt vor der Demokratie. Vor allem aber auch aus Angst, dass die SVP sonst weiteren Auftrieb erhält. Das ist der Trick der SVP: Sie hat dem Bundesrat einen unerfüllbaren Auftrag erteilt, nun kann sie toben, dass er den Auftrag nicht erfülle.

Obwohl die damalige EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton den Wunsch des Bundesrats bereits kurz nach seinem Eintreffen in Brüssel zurückwies – und die EU diese Position danach gefühlte tausend Mal wiederholte –, verabschiedete der Bundesrat Anfang 2015 ein Verhandlungsmandat. EU-Kommissar Jean-Claude Juncker willigte zwar kurz darauf ein, mit Sommaruga «Konsultationen» aufzunehmen. Doch ausser einem feuchten Schmatzer, über den sich die SVP unglaublich konsterniert zeigen konnte, erhielt Sommaruga von Juncker nichts.

Als Britannien Ende Juni für den Brexit stimmte, für den Austritt aus der EU, war endgültig Schluss. Die EU will den Eindruck vermeiden, sie sei zu Kompromissen bereit. Mission gescheitert.

Für diesen Fall hatte der Bundesrat kurz nach dem Ja vom 9. Februar angekündigt, dass er die Initiative einseitig mit Höchstzahlen umsetzen wolle. Ein klarer Bruch mit der Personenfreizügigkeit, die Wirtschaftsverträge mit der EU würden verfallen. Erneut wollte der Bundesrat vermeiden, von der SVP als Volksverräter beschimpft zu werden. Im Frühjahr 2016 legte er dem Parlament einen definitiven Gesetzesvorschlag vor. Dieser besteht aus einer einseitigen Schutzklausel: Überschreitet die Zuwanderung in einem Jahr eine bestimmte Anzahl, werden für das Folgejahr Höchstzahlen und Kontingente festgelegt.

Die SVP hatte der Bevölkerung vor der Abstimmung vorgegaukelt, dass sie beides haben könne: weniger Zuwanderung und bilaterale Wirtschaftsverträge mit der EU. Sollte das Parlament nun die Zuwanderung trotzdem beschränken – und damit den Bruch mit der EU wagen? Hatte nicht die Stimmbevölkerung auch den Bilateralen zweimal mit hohem Ja-Anteil zugestimmt? Auch der Auftrag an das Parlament war unerfüllbar.

Hohn, Leerlauf, Opportunismus

Seit Februar 2014 befindet sich die Schweiz in einem grossen Leerlauf, in dem sich Politiker, Wirtschaftsvertreterinnen und Experten mit immer neuen Ideen aufspielen, die das Dilemma angeblich lösen können: Schutzklausel! Kontingente! Inländervorrang! Genfer Modell! Selbst BeamtInnen klagen, sie hätten den Überblick verloren. Die SVP hat den Bund mit ihrer Initiative nicht nur Abermillionen von Franken gekostet, die in Beamtensaläre und Brüsselreisen geflossen sind, als ob es keine anderen Probleme zu lösen gälte. Die SVP hat die Demokratie in ein allgemeines Gaga-Theater verwandelt, von dem sich immer mehr BürgerInnen ratlos abwenden.

Aus diesem Theater geht die Blocher-Partei als grosse Siegerin hervor: Ihren Wähleranteil konnte sie 2015 um fast drei Punkte auf 29,4 Prozent erhöhen. Und am Ende darf sie sich sicher sein, dass sich FDP und CVP mit ihr ins Bett legen werden, wenn es etwa darum geht, die Steuern für Konzerne zu senken. Wie lobte doch die «Neue Zürcher Zeitung» den Wahlsieg der SVP? Genau, «Rückkehr zur Normalität».

Als das Gesetz des Bundesrats für die Umsetzung der SVP-Initiative im September 2016 in den Nationalrat kam und dieser die Vorlage zum Inländervorrang «light» abschwächte, trieb die SVP das Gaga-Theater auf die Spitze: Ihre ParlamentarierInnen fingen an, dem eigenen Parteikollegen Adrian Amstutz, der als Fraktionspräsident am Rednerpult stand, sinnlose rhetorische Fragen zu stellen. So wollte etwa Thomas Matter wissen, ob «dieser anstehende Verfassungsbruch» einmalig in der Geschichte der Eidgenossenschaft sei, worauf Amstutz mit rotem Kopf erwiderte, dass das eine sehr gute Frage sei, die man mit Ja beantworten müsse. – Sollte man laut darüber lachen, oder sollte man sich empören, dass eine Gruppe aus erwachsenen Menschen sich so aufführt?

Vielleicht bietet die eingereichte Rasa-Initiative, die die «Masseneinwanderungs»-Artikel kurzerhand aus der Verfassung streichen möchte, einen Ausweg: Der Bundesrat hat letzte Woche erklärt, dass er der Stimmbevölkerung die Initiative mit einem Gegenvorschlag vorlegen will. Dieser würde den Inländervorrang «light», der tatsächlich im Widerspruch zum jetzigen Verfassungsartikel steht, nachträglich in der Verfassung verankern. Falls die Stimmbevölkerung Ja dazu sagt. Dann würde das Land nach einem mehrjährigen, die Demokratie verhöhnenden Leerlauf sachlich wieder an jenem Punkt stehen, an dem es schon am 8. Februar 2014 stand.