LeserInnenbriefe

Nr. 19 –

Die Strasse ist entscheidend

«Die rhetorischen Winkelzüge des Herrn Mélenchon», WOZ Nr. 18/2017 .

Ich bin französischer Staatsbürger und möchte mich zur vermeintlichen Selbstverständlichkeit äussern, dass die Linke Macron wählen sollte. Da Daniel Hackbarth das Thema des «kleineren Übels» früher kritisch behandelt hatte, bin ich erstaunt, dass eine linke Unterstützung für den neoliberalen Exbanker jetzt als so selbstverständlich präsentiert wird.

Zu François Hollandes Taten gehörten nicht nur eine weitere Deregulierung des Arbeitsmarkts sowie weitere Steuergeschenke an Grossunternehmen und Reiche, sondern er hat auch eine unmenschliche Haltung gegenüber Sans-Papiers und Flüchtlingen an den Tag gelegt. Macron hat diese Politik voll mitgetragen, die auch den Boden für Le Pen bereitet hat. Für die linken Wähler, die immer noch etwas besitzen, was man früher Klassenbewusstsein nannte, ist die Macron-Wahl keine Option.

Was die Gründe des Lavierens von Mélenchon betrifft, gebe ich Daniel Hackbarth völlig recht: Rund sieben Millionen Wähler haben sich beim ersten Wahlgang nicht zuletzt wegen seiner chauvinistischen Töne für ihn entschieden. Mélenchon kann man vieles vorwerfen: dass er ein Demagoge ist, dass er einen nationalistischen Schrott unter den Arbeitnehmern verbreitet hat und dass er aus taktischen Gründen laviert, aber nicht, dass er «das Bündnis gegen die Chefin des Front National schwächt». Für ein solches Bündnis von der KP bis Fillon gibt es weder eine politische Rechtfertigung noch eine soziale Basis. Dies umso weniger, als Macron, der von diesem Bündnis profitieren wird, über seine arbeitgeberfreundlichen Absichten schon Klartext gesprochen hat. Die weitere Deregulierung des Arbeitsmarktes wird Le Pen noch weiteren Anschub geben. Macron hat übrigens schon angekündigt, dass er diese Verschärfung des Arbeitsgesetzes im Sommer per Verordnungen (!) bewerkstelligen wird!

Bei einer Stichwahl entscheidet man sich für eine oder einen der beiden übrig gebliebenen BewerberInnen und nicht gegen die andere oder den anderen. Das Gegenteil zu behaupten, hat nur zum Ziel, sich ein gutes Gewissen zu geben. Die Botschaft der Kommunistischen Partei («Am 7. Mai schlagen wir Le Pen. Ab dem 8. Mai bekämpfen wir Macron») gehört zu diesen Taktiken, bei denen man sich selbst belügt. Macron zu wählen, bedeutet nichts anderes, als Macron zu wählen und seinem Sozialabbauprogramm zuzustimmen. Entgegen der allgemeinen medialen Dramatisierung denke ich nicht, dass das Wesentliche von dem Ergebnis der Wahl vom 7. Mai oder dem der Parlamentswahlen im Juni abhängt. Vielmehr wird die Fähigkeit der Bevölkerung entscheidend sein, in den nächsten Monaten auf die Strasse zu gehen und für ihre Lebensbedingungen und ihre Freiheiten zu kämpfen. Und dies unabhängig davon, wer im Élyséepalast sitzt.

Stéphane Carsenty, Basel

Grünes Gummischrot

«Braucht es die Polizei?», WOZ Nr. 17/2017 und «Die rhetorischen Winkelzüge des Herrn Mélenchon», WOZ Nr. 18/2017 .

Susan Boos schreibt: «Knallt es, oder knallt es nicht?» Und wie mein Kopf auf den Tisch knallt! Neben kleinen Makeln sei die Polizei doch ganz nett, sagen sie, die vier Befragten. Ein paar mehr Linke und weniger Rassismus würden guttun, sagen sie, aber sonst? Grundsätzliche Kritik an den Verteidigern des Kapitals und der Mächtigen suchen wir vergebens bei der Auswahl der Befragten. Und gleich in der nächsten Ausgabe erklärt Daniel Hackbarth, dass sich Mélenchon gefälligst hinter Macron stellen solle, um die Reihen gegen Le Pen zu schliessen. Argumente, warum Le Pen das grössere Übel im Vergleich zu Macron sei, finden wir nicht. Sie scheinen gegeben oder wollen nicht gesucht werden, dabei hat die durch Macron verkörperte Politik zum Aufbau des Front National massgeblich beigetragen. Sollen wir weiter dem Glauben an den freien Markt folgen und dem durch «Reformen» beschleunigten Auseinanderdriften der Gesellschaft zuschauen, solange das Gummischrot ökologisch abbaubar ist und nicht mehr nach Rasse, sondern nach Klasse ausgebeutet wird? Wo bleibt die Schärfe? Wo bleibt die Haltung?

S. Tisch, Zürich