Sozialhilfe: Fatale Signale aus Bern

Nr. 21 –

Der Kanton Bern schert in der Sozialhilfe schon jetzt gegen unten aus. Richtig heftig wird es aber erst noch: Die Bürgerlichen wollen den Grundbedarf um zehn Prozent kürzen. Das hätte Signalwirkung für die ganze Schweiz.

Die «Weltwoche» formulierte vor zwei Jahren schon mal das Fernziel: ersatzlose Abschaffung der Sozialhilfe. So weit ist es noch nicht. Doch SVP-Politiker wie der Könizer Gemeindepräsident und Altgrossrat Ueli Studer und sein Parteikollege in der Berner Regierung, Pierre Alain Schnegg, machen sich jetzt schon einmal daran, die Fundamente einer existenzsichernden Sozialhilfe zu unterhöhlen. Studer gab mit einer vom Kantonsparlament im Jahr 2012 überwiesenen Motion den Kurs vor: Er fordert, dass der Grundbedarf um zehn Prozent gekürzt wird. Das will er nicht als reine Sparübung verstanden wissen, sondern auch als Anreiz für die Betroffenen, eine Arbeit zu suchen. Es könne nicht sein, dass Leute, die arbeiteten, weniger Geld im Sack hätten als SozialhilfeempfängerInnen, behauptete er. Mit Erfolg: 2013 beschloss das Parlament in der Sozialhilfe Sparmassnahmen von rund 30 Millionen Franken.

Die bereits erfolgten Kürzungen reichen Studer nicht. Sein parlamentarischer Vorstoss ist für ihn so lange nicht umgesetzt, wie die geforderte Kürzung von zehn Prozent nicht im Gesetz festgehalten ist. Das wiederholt er auch auf Anfrage: «Die Motion ist von der Regierung so umzusetzen, wie sie überwiesen wurde.»

Fachleute nicht erwünscht

Anfang dieses Jahres kam der seit einem Jahr zuständige Regierungsrat Pierre Alain Schnegg dem Wunsch des Parteikollegen nach und präsentierte eine Revision des Sozialhilfegesetzes, die diese Forderung erfüllt. Fachleute hatte er bei der Ausarbeitung der Vorlage nicht beigezogen, auch nicht im eigenen Departement, wie ein Insider gegenüber der WOZ sagt. Ebenso wenig schickte er die Vorlage in die Vernehmlassung. Die massive Kürzung ist notabene in einem Kanton geplant, der bereits heute den von der SozialdirektorInnenkonferenz (SODK) vereinbarten Grundbedarf von 986 Franken (für einen Einpersonenhaushalt) um neun Franken unterbietet. Neben der generellen Kürzung des Grundbedarfs von zehn Prozent sind zudem Kürzungen für vorläufig aufgenommene Flüchtlinge (15 Prozent), junge Erwachsene (15 bis 30 Prozent) und Personen mit ungenügenden Sprachkenntnissen (30 Prozent) vorgesehen. Ausgenommen sind: Alleinerziehende mit Säuglingen, Personen ab sechzig Jahren und Menschen mit Behinderung. Am Ende sollen so 15 bis 25 Millionen Franken eingespart werden.

Die Sozialhilfe steht gesamtschweizerisch seit langem unter Druck. Nach der von der SVP losgetretenen «Missbrauch»-Debatte und der Einführung von SozialdetektivInnen knöpfte sich die Partei die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) vor und denunzierte die urbürgerliche Institution als demokratisch nicht legitimiert – obschon die Skos gar keine Weisungsbefugnisse hat, sondern nur fachlich fundierte Empfehlungen an Kantone und Gemeinden abgibt. Die Angriffe zeigten Wirkung: Der Grundbedarf wurde eingefroren, neuerdings segnet die SODK die Skos-Empfehlungen ab und hat die Reihen innerhalb der Kantone vorerst geschlossen. Das ist nun in Gefahr.

Bei den Gemeinden ist es bereits passiert. Vorreiter war der Rorschacher Stadtpräsident und SVP-Nationalrat Thomas Müller. Er setzte 2013 ein erstes Signal und trat mit seiner Gemeinde aus der Skos aus. Weitere Gemeinden folgten. Jetzt spielen Berner SVP-Politiker auf kantonaler Ebene eine ähnliche Rolle.

In Bern formiert sich zwar Widerstand. Die Ratslinke kündigte bereits das Referendum an, falls das Parlament die Gesetzesrevision beschliessen sollte. Die Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE) kritisiert die Vorlage als «aus fachlicher Sicht nicht vertretbar». Die Sozialhilfe müsse existenzsichernd bleiben, die Kürzung des Grundbedarfs sei kontraproduktiv. An der Basis führt der Verein Verkehrt eine Kampagne gegen die Kürzungen. Unterstützt wird er etwa von Avenir Social, dem Berufsverband der SozialarbeiterInnen, und dem Komitee der Arbeitslosen und Armutsbetroffenen (Kabba). Der Verein Verkehrt ruft zu einer Kundgebung am 6. Juni in Bern auf.

Aber es sieht nicht gut aus: Die bürgerlichen Fraktionen werden der Revision aller Voraussicht nach zustimmen. Zumindest FDP-Fraktionschef Adrian Haas pflichtet Studer bei: «Man kann beim Grundbedarf durchaus kürzen. Das ist zumutbar», sagt er. «Klar, wie immer bei diesen Sparrunden dramatisieren die Leute aus dem Sozialkuchen. Und nachher hört man nichts mehr.» Haas geht davon aus, dass das Parlament im Herbst der Gesetzesrevision zustimmt.

Bereits gibt es einen Kanton, der auf eine ähnliche Linie umschwenkt: Schwyz. Dort verlangte das Parlament dasselbe: Es überwies eine Motion und ein Postulat und fordert eine Kürzung des Grundbedarfs um zehn Prozent sowie Kürzungen bei jungen Erwachsenen. Die Regierung hat die vom Parlament verlangte Gesetzesrevision vorgelegt, lehnt sie allerdings ab; genauso wie 22 der 28 Schwyzer Gemeinden. Es sind Signale, die andere Kantone genau registrieren – sodass sie womöglich bei der nächsten Sparrunde auf diesen Pfad einschwenken könnten. Und das, obwohl der Handlungsbedarf über alles gesehen alles andere als dramatisch ist: In absoluten Zahlen sind die Sozialhilfeausgaben gesamtschweizerisch gewachsen, inzwischen belaufen sie sich jährlich auf 2,4 Milliarden Franken. Aber die Sozialhilfequote ist seit der Erfassung der Daten im Jahr 2005 stabil, sie bewegt sich zwischen 2,9 und 3,2 Prozent. Kurz: Die Ausgaben sind parallel zum Bevölkerungswachstum gestiegen.

Daniel Bock, Kopräsident der Berner Konferenz für Sozialhilfe, sagt: «Wir setzen uns für Sparmassnahmen ein, allerdings nicht auf dem Buckel der Armen. Wir müssen bei den Strukturen sparen, nicht bei den Betroffenen.» Grosses Sparpotenzial sieht er bei den Krankenkassenprämien, indem die zuständigen Sozialbehörden ihre KlientInnen dazu anhalten könnten, sich mit effizienteren Franchisen zu versichern. Eine andere Sparmassnahme auf lange Sicht wäre die Schaffung von Nischenarbeitsplätzen im Gesundheits- und Pflegewesen. «Auch die Wirtschaft müsste vermehrt Hand bieten», betont er. Von den Sparmassnahmen in Bern sind Menschen betroffen, die sich nicht wehren können: über dreissig Prozent sind Kinder und Jugendliche. Rund ein Viertel der BezügerInnen sind Working Poor, deren Lohn nicht zum Leben reicht.

Kürzungen wirken sich auf die Ernährung aus, auf soziale Teilhabe wie Schwimmbadbesuche oder das Mitmachen in einem Sportklub. Würden Jugendliche auf diese Weise ausgegrenzt und in die Perspektivlosigkeit gedrängt, leiste das zudem beispielsweise religiöser Radikalisierung Vorschub. So sieht es Thomas Näf, Präsident des Berner Kabba-Komitees. Dass die Kürzungen ein Anreizsystem bilden sollen, damit SozialhilfebezügerInnen wieder schneller eine Arbeit finden, hält er für zynisch: «Ich kenne keinen Sozialhilfebezüger, der nicht sofort eine Arbeit annehmen würde, wenn er eine Chance bekäme», sagt er. Ohnehin geschwächte Menschen noch mehr unter Existenzdruck zu setzen, bewirke das Gegenteil: «Die meisten brauchen schon jetzt ihre ganze Energie, um irgendwie über die Runden zu kommen.»

Wasser predigen, Wein trinken

Ähnlich argumentieren praktisch alle Fachleute. Wer den Ärmsten in dieser Gesellschaft die Luft abschnüre, sie mit immer schärferen Regelungen gängle und demütige, schwäche sie zusätzlich. Auch der Wirtschaftswissenschaftler Carlo Knöpfel zerpflückte letzte Woche die Argumentation der Kürzungsapostel in einem Referat vor Fachleuten und kritisierte das aus seiner Sicht falsche «Anreizsystem». Ihm sei keine Studie bekannt, die nachweise, dass finanzieller Druck auf die Sozialhilfebeziehenden diesen etwas bringe. Vielmehr brauche es eine «investive und aktive Strategie zur Arbeitsmarktintegration». Man müsse «Massnahmen zur beruflichen Qualifikation finanzieren, eine professionelle Vermittlung aufbauen und ein wirksames Coaching zur Verfügung stellen, wenn mehr Integrationserfolge verzeichnet werden sollen».

Die Bürgerlichen in Bern lassen wissenschaftliche Erkenntnisse kalt. Während sie den Armen Wasser predigen, trinken sie Wein. Als das Parlament 2013 die Sozialhilfe kürzte, erhöhte es sich im gleichen Atemzug den Lohn um fünfzig Prozent. Anderes Beispiel: Die ParlamentarierInnen gewähren sich 24 Franken fürs Mittagessen. SozialhilfebezügerInnen müssen mit 11 Franken auskommen – pro Tag.