Bildungspolitik in Indien: Angriff auf das freie Denken

Nr. 26 –

Die hindunationalistische Regierung will die Bildungslandschaft umpflügen und legt sich auch mit den Universitäten an. Das bleibt nicht ohne Widerspruch.

«Ich denke, sie versuchen, uns zu zerstören.» Jayati Ghosh, Professorin an der Jawaharlal Nehru University (JNU) in Delhi, spricht schnell und ohne Schnörkel. Ihre Sätze sind scharf, und doch wirkt die Ökonomin ruhig und freundlich. Mit «sie» meint Ghosh die indische Regierung, mit «uns» die JNU. Denn ähnlich wie in der Türkei, Ungarn oder Russland kommen auch in Indien Bildungsinstitutionen unter Beschuss. Die JNU ist Premierminister Narendra Modi und seiner hindunationalistischen Volkspartei (BJP) besonders verhasst. «Das offene und kritische Fragen ist eine grosse Bedrohung für jede Regierung, die eine uniforme soziale Ordnung errichten möchte», so Ghosh.

Das Stellen kritischer Fragen schrieb sich die JNU bereits bei ihrer Eröffnung auf die Fahne: Mitte der sechziger Jahre im Zeichen der Dekolonisation als autonome und öffentliche Universität gegründet, war es von Gesetzes wegen ihr Auftrag, Forschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu fördern und diese Form der Bildung möglichst allen zugänglich zu machen – unabhängig von Klasse, Kaste, Religionszugehörigkeit oder Herkunft. Die gesellschaftliche Komplexität des Subkontinents sollte sich an der JNU sowohl in Forschung und Lehre als auch in der StudentInnenschaft widerspiegeln. So jedenfalls die Idee. Heute gehört die JNU zu den renommiertesten Hochschulen Indiens.

Was heisst «antinational»?

Im Sommer 2015 lancierte Narendra Modi eine landesweite Bildungsreform: Die Schulen seien heute fast allen InderInnen zugänglich, nun müsse an der Qualität gearbeitet werden, liess die Regierung verlauten. In den vergangenen zehn Jahren wurde durchaus in Schulen investiert – vornehmlich in private. Zugänglich sind diese bloss einer dünnen Oberschicht. Studien zum indischen Schulwesen zeigen, dass die Hürden für Dalits, MuslimInnen oder die indigene Gruppe der Adivasi nach wie vor sehr hoch sind. Selbst in öffentlichen Institutionen wie der JNU.

Bis heute sind die konkreten Pläne der Bildungsreform nicht veröffentlicht worden. Sie findet aber längst statt: Die Köpfe in den für die Bildung zentralen Ministerien und Kommissionen werden kontinuierlich durch Modi-getreue Leute ersetzt. Sie bestimmen über Subventionen für die Hochschulen und können deren Zulassungsbedingungen beeinflussen. Und sie können deren Leitungsgremien bestimmen.

«Premier Modi und seine Leute wollen die Bildungsinstitutionen unterwandern, um deren Charakter von innen her zu verändern», sagt Jayati Ghosh. In der JNU hat der Akademische Rat, der sich aus VertreterInnen der StudentInnen und DozentInnen zusammensetzt, rechtlich weitreichende Kompetenzen: Der Rat kann sich Beschlüssen der Regierungsgremien widersetzen, wenn sie den Grundsätzen der Universität widersprechen. Doch im Januar 2016 wurde M. Jagadesh Kumar vom Bildungsministerium zum neuen Vizerektor ernannt. Die Wahl sorgte bei vielen StudentInnen und DozentInnen der als «linke Bastion» geltenden JNU für Unmut: Kumars politische Nähe zur paramilitärischen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und der regierenden BJP war weitherum bekannt. «Damit begann die Attacke gegen uns», sagt Ghosh.

Zwei Ereignisse, die sich beinahe zeitgleich abspielten, sorgten Anfang 2016, kurz nach Amtsantritt des neuen Vizerektors, für Aufruhr. Zum einen ging es um den Tod von Rohith Vemula. Vemula war Doktorand an der Hyderabad Central University. Als Dalitaktivist war er bekannt für seine Kritik an der indischen Kastengesellschaft und ihrer diskriminierenden Politik, die auch er an der Universität täglich zu spüren bekam. Anfang 2016 wurde er wegen seines Aktivismus von der Universität suspendiert – kurz darauf nahm er sich das Leben. Die Nachricht von Vemulas Tod führte an mehreren Universitäten zu heftigen Reaktionen, so auch an der JNU: Dalits und SympathisantInnen prangerten die Diskriminierung und die Kastengewalt an, die sich auch an den Universitäten gerade verschärfen.

Zum andern geht es um die Frage, was «indisch» oder aber «antinational» sei. Im Februar 2016, kurz nach der Amtsübernahme des neuen Vizerektors, organisierte eine Gruppe von StudentInnen auf dem JNU-Campus eine regierungskritische Veranstaltung zur Kaschmirpolitik Indiens. Die StudentInnenunion der JNU (JNUSU) gestaltete den Abend mit. Die dem RSS nahe StudentInnenorganisation ABVP postete noch in derselben Nacht Videos, in denen die StudentInnen als TerroristInnen dargestellt wurden. Und tags darauf warfen sich die grossen Medienhäuser auf die Geschichte: Die JNU sei ein Hort der antiindischen Propaganda und die JNUSU deren Speerspitze.

Drei Tage später liess der neue Vizerektor die Polizei den Campus durchsuchen: Kanhaiya Kumar, Präsident der JNUSU, wurde verhaftet, fünf weitere StudentInnen wurden zur Fahndung ausgeschrieben. Kumar und seinen KollegInnen wurde «antinationale Aufwiegelung» vorgeworfen – mit Bezug auf einen Gesetzesartikel, der aus der Kolonialzeit stammt.

Unerwartet viel Widerstand

Das Rektorat der JNU und die BJP-Regierung hofften offenbar, an Kanhaiya Kumar ein Exempel statuieren zu können. Doch sie verrechneten sich gewaltig: In kürzester Zeit ploppten Websites und Hashtags auf, die zur Verteidigung des freien Denkens und zur Solidarität mit Kumar aufriefen. An Demonstrationen und Kundgebungen wurden Gedichte, Songs und Comics weitergereicht – und es passierte etwas, womit niemand gerechnet hatte: Professorinnen und Studenten organisierten gemeinsam spontan ein Teach-in, eine offene Vorlesungsreihe. Unter dem Titel «Was die Nation wirklich wissen sollte» wurden Fragen verhandelt wie: «Was ist eine Nation?», «Gibt es einen einschliessenden Nationalismus?» und schliesslich auch konkreter: «Was ist antinational? Die Politik von Modi oder der Kampf für ein friedliches Zusammenleben?»

Das Teach-in sollte etwa eine Woche dauern – es wurde ein ganzer Monat daraus. Aktivistinnen, Studentinnen, Professoren und Schriftsteller reisten aus den verschiedensten Ecken des Landes an, um unter freiem Himmel Vorlesungen zu halten und mitzudiskutieren. Der Platz vor dem Verwaltungsgebäude der JNU wurde kurzerhand zum «Freedom Square» umbenannt. Viele der «open lectures» wurden gefilmt und auf der Website «Stand with JNU» gepostet. Heute gibt es die Beiträge in einem Buch gebündelt zu kaufen.

Das Teach-in hatte durch die starke Präsenz in den sozialen Medien Signalwirkung weit über den Subkontinent hinaus: Weltweit solidarisierten sich Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur mit den Protestierenden; die «New York Times» titelte: «Indiens Razzia gegen den Dissens». Nach drei Wochen der Proteste wurden Kanhaiya Kumar und seine KollegInnen auf Bewährung aus der Haft entlassen. Mit einer saftigen Busse und seither täglichen Morddrohungen.

Anfang dieses Jahres holte der Vizerektor der JNU zu einem weiteren Schlag aus: Er «ergänzte» zwei Protokolle einer bereits abgehaltenen Sitzung des Akademischen Rats um je eine «Mitteilung». Darin hiess es, dass das Rektorat in Zukunft befugt sei, in alleiniger Vollmacht das Auswahlgremium zur Bestimmung neuer Fakultäten zu stellen, und dass eine deutliche Reduktion der Studienplätze entschieden worden sei. Das waren massive Eingriffe in die bildungspolitische Ausrichtung der Universität, und sie widersprechen den Grundsätzen der JNU. Deshalb hätten sie auch keine Mehrheit im Rat gefunden, dem gemäss JNU-Gesetz bei solchen Beschlüssen die Entscheidung obliegt.

Die protestgeübten Lehrkräfte und StudentInnen organisierten sich erneut und reichten Mitte Mai beim Delhi High Court Klage gegen das illegale Vorgehen des Vizerektors ein. Sie organisierten Streiks und Demonstrationen und schrieben einen offenen Brief an den Präsidenten der Republik. Und wieder machten sie ihren Widerstand im Internet publik.

Vormarsch der HindunationalistInnen

Doch die DozentInnen und StudentInnen der JNU wissen, dass sie sich auf einen langen Kampf einrichten müssen: In den Regionalwahlen Anfang des Jahres gewannen die BJP und ihre Verbündeten weiter an Macht. Das gab auch der StudentInnenorganisation der HindunationalistInnen Auftrieb: Die ABVP tritt zunehmend militant und selbstbewusst auf. An der Delhi-Universität wurde im März eine Vorlesungsreihe zu Protestformen, an der auch die JNU-Proteste von 2016 Thema waren, von ABVP-Leuten angegriffen. Sie prügelten auf StudentInnen und DozentInnen ein und bewarfen sie mit Steinen. An der JNU gilt der muslimische Student Najeeb Ahmad seit Februar als «vermisst» – es ist kein Geheimnis, dass er kurz vor seinem Verschwinden mehrfach von Anhängern der ABVP angepöbelt wurde. Weder Unileitung noch Regierung kümmern sich ernsthaft um die Aufklärung des Falls.

Die Ökonomin Jayati Ghosh schreibt regelmässig für den britischen «Guardian» und für das linke indische Magazin «Frontline». Dabei geht sie mit Modis Regierung oft hart ins Gericht. Ob sie sich vor Modi und seinen Schergen fürchte? «Ich wurde bislang nicht verhaftet, ich wurde noch nicht direkt angegriffen, aber ich stehe ganz klar in der Schlange», sagt sie und lächelt bitter. Ob die internationale Berichterstattung und die Solidaritätsbekundungen etwas bewirkt hätten? «Ich denke ja, denn auch Modi ist auf die internationale Gemeinschaft angewiesen. Weder Rektorat noch Regierung wünschen sich Schlagzeilen dieser Art. Der Artikel in der ‹New York Times› hat sie so richtig wütend gemacht», erzählt sie weiter.

Ghosh neigt den Kopf leicht nach links, überlegt kurz und sagt: «Doch wir dürfen nicht vergessen: Die BJP und der RSS verfolgen von jeher eine Langzeitstrategie. Sie denken nicht für die nächsten fünf, sondern für die nächsten dreissig Jahre. Sie haben sehr viel Geld und einen riesigen Propagandastab. Wir haben die Grösse dieses Ungeheuers zu lange nicht erkannt. Was wir brauchen, ist ebenfalls eine Langzeitstrategie.»