Türkei II: Gerechtigkeitsmarsch: Hoffnung auf eine geeinte Opposition

Nr. 27 –

Endlich: Nach einem Jahr der exzessiven Repression durch die AKP-Regierung vereinen die beiden grössten Oppositionsparteien der Türkei ihren Protest. Am Montag schloss sich eine Delegation der prokurdischen HDP dem «Marsch der Gerechtigkeit» an, den Kemal Kilicdaroglu, der Vorsitzende der kemalistischen CHP, am 15. Juni lanciert hatte. Die Protestwanderung führt in 25 Tagen von Ankara nach Maltepe in Istanbul, wo der jüngst zu 25 Jahren Haft verurteilte CHP-Parlamentarier Enis Berberoglu einsitzt. Auf dem Streckenabschnitt durch den Distrikt Kandira, wo wiederum einer ihrer Abgeordneten inhaftiert ist, hat sich nun die HDP der stetig wachsenden Menschenmenge angeschlossen.

Klassendünkel und die ablehnende Haltung der CHP gegenüber kurdischen Anliegen standen einer Zusammenarbeit bislang im Weg. Solange die CHP als geduldete Oppositionspartei noch Pfründe zu bewahren hatte, zog sie zudem ein Arrangement mit der Regierung dem Widerstand vor. So unterstützte die Mehrheit der CHP-Abgeordneten etwa im Mai 2016 die Aufhebung der Immunität eines Drittels aller ParlamentarierInnen, weil Präsident Recep Tayyip Erdogan es damals einzig auf die HDP abgesehen zu haben schien. Die dreiste Taktiererei wurde nun aber auch ihrem stellvertretenden Vorsitzenden Berberoglu zum Verhängnis. Seine Verurteilung unterstreicht die Verbannung der CHP aus der politischen Komfortzone.

Mit dem Gang auf die Landstrasse scheint die CHP – besser spät als nie – zum unumgänglichen Konfrontationskurs mit Erdogan gefunden zu haben. Mit dem Verzicht auf Parteiembleme und unter dem Banner der «Gerechtigkeit» zeigt sich die CHP offen für Allianzen auch mit der HDP. Die Warnung Erdogans, die Teilnahme der HDP am Marsch würde Initiator Kilicdaroglu zu einem Terrorkomplizen machen, wies Letzterer mit den Worten zurück: «Jeder, der für Gerechtigkeit einsteht, ist willkommen.» Er liess sich auch nicht von einer Haftandrohung Erdogans einschüchtern.

Der unscheinbare, kleine Mann tippelt würdevoll weiter und gewinnt unerwartet an politischer Statur. Wie lange die HDP mitmarschiert, ist noch unklar. Fraglich ist auch, ob die CHP, wie von der HDP vorgeschlagen, später mit zum Gefängnis in Edirne weiterzieht, wo HDP-Chef Selahattin Demirtas inhaftiert ist. Die Parteispitzen halten sich derzeit alle Optionen offen. Für diesen Sonntag rufen schon mal beide Parteien zu einer Grossdemonstration in Istanbul auf. Ob die gegenseitigen Ressentiments der Einsicht gewichen sind, dass Erdogan nur gemeinsam gestoppt werden kann, wird sich weisen müssen.