«Streik im 21. Jahrhundert»: Ein Kern, ohne den es nicht geht

Nr. 3 –

Seit der Jahrhundertwende wird in der Schweiz wieder vermehrt gestreikt. Ein Buch der Gewerkschaft Unia präsentiert eine erste Zwischenbilanz.

Streik für bessere Löhne am Schauspielhaus Zürich: Das technische Personal legt im Januar 2006 den Theaterbetrieb während vier Tagen lahm. Foto: Archiv Unia

Fünfzig Jahre lang hatte es im Baugewerbe keinen landesweiten Ausstand mehr gegeben. Doch am 4. November 2002 erscheinen in der ganzen Schweiz rund 15 000 BauarbeiterInnen nicht zur Arbeit. Sie demonstrieren stattdessen in Bern, Bellinzona, Lausanne, Genf und Zürich für einen neuen Gesamtarbeitsvertrag, in dem das Rentenalter auf sechzig Jahre festgeschrieben wird.

Höhepunkt des Tages ist die Blockierung des Bareggtunnels auf der Autobahn A1 durch 2000 Streikende. Eigentlich soll die Aktion nur eine halbe Stunde dauern. Doch weil die Streikenden spontan durch den Tunnel marschieren, dauert alles etwas länger – mit der Folge, dass sich ein Stau von rund zwanzig Kilometern bildet.

Ein Kampfmittel wird populär

Führende Köpfe der Gewerkschaft Unia haben im Rotpunktverlag das Buch «Streik im 21. Jahrhundert» publiziert, in dem über ein Dutzend Streiks aus den letzten achtzehn Jahren beleuchtet werden. Fazit: Die Beschäftigten in der Schweiz sind wieder eher bereit zu streiken. In diesem «neuen Zyklus von Arbeitskämpfen» ist der eingangs erwähnte Bauarbeiterstreik von 2002 die bislang bedeutendste und erfolgreichste Auseinandersetzung: Schon einen Monat später unterzeichneten die Gewerkschaften zusammen mit den VertreterInnen der Unternehmen einen Gesamtarbeitsvertrag, in dem der «flexible Altersrücktritt» festgeschrieben wurde. BauarbeiterInnen können sich aufgrund dieses Vertrags heute bereits mit sechzig Jahren vorzeitig pensionieren lassen und erhalten bis zur Erreichung des ordentlichen Pensionsalters bis zu achtzig Prozent des letzten Lohns.

Dass Streik auch hierzulande ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung von Forderungen sein kann, war damit eindrücklich unter Beweis gestellt. Allerdings waren viele Streiks der letzten achtzehn Jahre eher defensiver Natur: Die Angestellten wehrten sich gegen Massenentlassungen, Betriebsschliessungen oder auch gegen zu viele Überstunden und Lohnkürzungen – erstaunlicherweise sogar in Branchen mit tiefem gewerkschaftlichem Organisationsgrad und fehlender Kampftradition. So legte etwa am 30. April 2009 die Belegschaft eines Tankstellenshops des Spar-Konzerns im bernischen Heimberg die Arbeit für zwei Tage nieder. Ihr Protest richtete sich gegen die tiefen Löhne bei einer überdies sehr hohen Zahl an Überstunden. Ihr Kampf hat sich gelohnt: Spar schaffte zwei neue Stellen, erhöhte die Mindestlöhne und zahlt seither Zuschläge für Überstunden.

Der Streik in Heimberg machte Schule: Vier Jahre später treten auch elf Beschäftigte der Spar-Filiale im aargauischen Dättwil spontan in einen Ausstand. Wiederum stehen miese Löhne und zahlreiche Überstunden im Fokus. Diesmal jedoch endet der Kampf in einer Niederlage. Denn auch der Konzern hat aus dem Heimberger Streik seine Lehren gezogen: Im Fall Dättwil werden die Medien noch gezielter bearbeitet, rechtliche Möglichkeiten voll ausgeschöpft. So bewirkt Spar einen Gerichtsbeschluss zur Räumung des besetzten Geländes, deckt die Streikenden mit Gerichtsklagen ein und entlässt zehn von ihnen fristlos.

Der «subjektive Faktor»

Die dokumentierten Streiks zeigen: Trotz Individualisierung und Flexibilisierung am Arbeitsplatz sind organisierte Arbeitskämpfe noch immer möglich. Im Grunde geht es dabei oft schlicht um die Verteidigung der eigenen und der kollektiven Würde. Die Beschäftigten wollen sich von ihren Bossen nicht alles bieten lassen. Dass es schliesslich zu einem Streik kommt, hängt aber immer auch von aktiven Gewerkschaften ab, die bereit sind, ihre Ressourcen für den Kampf einzusetzen. Entscheidend ist allerdings der «subjektive Faktor», die Bereitschaft zumindest einer Gruppe Beschäftigter, aufs Ganze zu gehen. «Bei den Streiks, die ich erlebt habe, gab es immer einen überzeugten Kern von Arbeitnehmenden, die den KollegInnen Mut gemacht haben», sagt Unia-Gewerkschaftssekretärin Catherine Laubscher in einem im Buch festgehaltenen Gespräch. Das grösste Manko der Gewerkschaften liege in der Fähigkeit, «solche Kerne zu erkennen und zu stärken».

So informativ und eindrücklich die journalistisch in Wort und Bild aufbereitete Dokumentation ganz unterschiedlicher Streiks auch ist: Man wünschte sich, dass noch vertiefter und auch mit Aussenstehenden diskutiert wird, welche Lehren denn nun aus den zurückliegenden Streiks gezogen werden können. Auch bleibt ausgeblendet, wie bei der Unia die gewerkschaftsinternen Auseinandersetzungen während der Kämpfe verlaufen sind. Die grösste Schweizer Gewerkschaft entstand erst im Herbst 2004 aus der Fusion des Metall- und Uhrenarbeitnehmerverbands (Smuv), der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) und weiterer kleinerer Gewerkschaften. Damals trafen sehr unterschiedliche gewerkschaftliche Kulturen aufeinander, gerade was das Verhältnis zu Arbeitskämpfen betraf: Der Smuv stand für das 1937 geschlossene Friedensabkommen mit den Unternehmern, das Streiks faktisch ausschloss. Die GBI hingegen setzte auf ein Wechselspiel von direkten Aktionen und Verhandlungen. Das Buch belegt: Mit der Geburt der Grossgewerkschaft Unia sind die Streikfähigkeit wie auch die Bereitschaft dazu gestärkt worden. Nur zwischen den Zeilen lässt sich herauslesen, dass die unterschiedlichen Kulturen innerhalb der Gewerkschaft weiterbestanden.

Vania Alleva (Hrsg.) und Andreas Rieger (Hrsg.): Streik im 21. Jahrhundert. Rotpunktverlag. Zürich 2017. 166 Seiten. 25 Franken