Albert Speer: Die fatale Inszenierung einer Lüge

Nr. 15 –

Eine neue historische Analyse über Albert Speer zeigt, wie konsequent dieser seine Nazibiografie geschönt hatte. Und wie sträflich seine publizistischen Helfer jede Sorgfaltspflicht ignorierten.

Was verbinden Sie mit dem Namen Albert Speer? Steht er in einer Reihe mit Joseph Goebbels oder Hermann Göring? Oder ist er für Sie ein Spezialfall, der nicht mit den Hauptverantwortlichen des NS-Regimes verglichen werden kann? Als Speer 1981 in London starb, hatte der einstige NS-Rüstungsminister und Hitler-Vertraute eine erstaunliche Karriere als «Hitlers Architekt» und später als geläuterter «guter» Nazi hinter sich. Mit seinen beiden Weltbestsellern «Erinnerungen» (1969) und «Spandauer Tagebücher» (1975) und in zahlreichen Interviews und TV-Auftritten hat er sich geschickt ein Denkmal als Ausnahmefigur gebaut: nahe dran am Herz der Macht und doch ganz anders als die anderen Nazis im innersten Kreis um Hitler. Wie die neue Speer-Biografie des Historikers Magnus Brechtken ausführlich und mit zahlreichen Forschungsverweisen aufzeigt, hat Speer die öffentliche Wahrnehmung seiner Karriere gezielt manipuliert. Unterstützt wurde er dabei von namhaften publizistischen Helfern wie dem ersten Speer-Biografen und späteren «FAZ»-Herausgeber Joachim Fest und dem Verleger Wolf Jobst Siedler.

Sein Freund Hitler

In seinem Buch «Albert Speer. Eine deutsche Karriere» zeichnet der stellvertretende Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte detailliert nach, dass die folgenreiche Manipulation bereits begann, bevor der Angeklagte Speer im Rahmen der Nürnberger Prozesse (1945/46) ans Mikrofon trat und ein genau vorbereitetes Statement vortrug. Vom amerikanischen Magazin «Life» wurde er bereits vor seiner Verhaftung als «interessantester aller überlebenden Naziführer» porträtiert und konnte im Gespräch mit den Journalisten seine späteren Verteidigungsstrategien ausprobieren.

Speers Trick: Vordergründig mimte er maximale Zerknirschung, Schuldgefühle und Reue, die sich aber nie auf konkrete Ereignisse oder Taten bezogen, sondern sicher im Ungefähren blieben. Auch akzeptierte er die Notwendigkeit und Autorität des «Siegergerichts» von Nürnberg und zog so den Hass anderer Hauptangeklagter, namentlich Görings, auf sich. Freimütig gestand er eine freundschaftliche Nähe zu Hitler ein, distanzierte sich aber gleichzeitig vehement von den Gräueltaten des «Regimes» und von seinen weiterhin stramm nationalsozialistisch argumentierenden Mitangeklagten, die er später in den «Erinnerungen» explizit der Legendenbildung bezichtigte. Dies erwies sich als schlauer Schachzug, der erstaunlich effizient davon ablenkte, dass er gerade selber dabei war, der Weltöffentlichkeit seine eigene Riesenlüge aufzutischen: Die Geschichte von sich selbst als gutem Nazi – als wahlweise apolitischem Technokraten oder künstlerisch sensiblem Architekten, der nun plötzlich fassungslos vor dem Grauen der Konzentrationslager stand, das sein Freund Hitler vor ihm verheimlicht hatte.

Entscheidend ist, dass Speers systematische Beschönigung seiner Nazibiografie weit über seinen Einzelfall hinaus Konsequenzen hatte. Lieferte er doch eine Blaupause, nach deren Vorbild zahlreiche andere – Täterinnen, Wegschauer, «ganz normale Deutsche» – ihre eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus und ihr Wissen über den Holocaust verschleiern oder rundweg ableugnen konnten. Wenn sogar der Herr Rüstungsminister anscheinend glaubhaft beteuern konnte, dass er nichts gewusst hatte, musste man das allen viel weniger prominenten MitläuferInnen des Regimes doch erst recht abnehmen.

Mit seinen wohlkalkulierten Auftritten vor Gericht gelang es Speer, Richter und Öffentlichkeit ein entscheidendes Stück weit auf seine Seite zu ziehen. Obwohl er einer der Hauptangeklagten war, entging er dem Galgen und wurde stattdessen zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe verurteilt. Gleichzeitig lancierte er vor Gericht in Nürnberg seine Laufbahn nach der Entlassung aus dem Gefängnis Spandau mit einer nachhaltigen Doppelstrategie: Von den schlimmsten Gräueln des NS-Regimes hatte er sich abgekoppelt – und es gleichzeitig geschafft, seinen wichtigsten publizistischen Lockstoff loszuwerden: Er war Hitlers Freund gewesen.

Doch wäre diese Strategie kaum aufgegangen, wenn man Speer nicht zahlreiche Plattformen geboten und ihm nach seiner Haftentlassung nicht publizistisch wie redaktionell massiv unter die Arme gegriffen hätte. Wie Brechtken in seinem Buch überzeugend nachzeichnet, war es vor allem der Hitler-Biograf und Publizist Joachim Fest, der ihn gemeinsam mit dem Leiter des Siedler-Verlags hofierte und seine Inszenierung als «guter Nazi» und wertvoller Augenzeuge entscheidend mittrug. Erst kurz vor seinem Tod räumte Fest in einem Fernsehinterview mit dem Dokfilmer Heinrich Breloer ein, dass Speer «uns allen mit der treuherzigsten Miene von der Welt eine Nase gedreht hatte». Auch Siedler sprach nun plötzlich davon, dass Speer wohl gelogen habe. Breloers TV-Dokudrama «Speer und Er» von 2005 war ein erster publikumswirksamer Versuch, aufzurollen, wie sehr Speer die Wahrheit zurechtgebogen hatte. Bloss ein Jahr zuvor hatte Fest – noch wenig schuldbewusst – die Textvorlage geliefert für den weltweit erfolgreichen Kinofilm «Der Untergang», eine Dokufiktion über die letzten Tage im Führerbunker. Darin präsentierte Fest Speer einmal mehr als geheimnisvollen Aussenseiter, der sich als Einziger getraut hatte, Hitler die Meinung zu sagen.

Mit zerknirschtem Opagesicht

Frappierend ist nicht nur, wie hartnäckig man sich, noch bevor Speer 1966 aus dem Gefängnis entlassen wurde, um die Rechte an seinen Memoiren und später um eine persönliche Nähe zu ihm bemühte, sondern auch, wie sorglos fast alles geglaubt und übernommen wurde, was aus Speers Mund oder Feder kam. Obwohl Fest ein studierter Historiker war, machte er sich kaum die Mühe, Quellen zu konsultieren, um Speers Erzählungen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Dabei hätte sogar eine oberflächliche historische Recherche Speers Lügengebäude schon früh demontieren können. Diese Demontage leistet nun Brechtkens Buch: Er sammelt und bündelt akribisch und gut lesbar, was verstreut zumeist längst erforscht ist, aber bis heute nicht zwingend in die öffentliche Wahrnehmung gedrungen ist. Diese scheint immer noch stark unter dem Bann von Speers backsteinschweren Bestsellern zu stehen, seinem TV-tauglichen, weiterhin durch diverse Youtube-Clips geisternden, zerknirschten Opagesicht und Fests immer noch lieferbarer Speer-Biografie.

In Brechtkens historisch fundierter Demaskierung kann man nachlesen, dass Speer bereits seit 1931 Parteimitglied war, obwohl er später behauptete, nie ein fanatischer Nazi gewesen zu sein. Auch wusste er schon früh, dass jüdische BürgerInnen aus ihren Wohnungen vertrieben wurden, weil er als Hitlers grössenwahnsinniger Baumeister diese Enteignungen direkt im Blick hatte. Er besichtigte Steinbrüche, in denen «Vernichtung durch Arbeit» praktiziert wurde. 1943 genehmigte er «infolge Ostwanderung» die «Vergrösserung des Barackenlagers Auschwitz»; «Ostwanderung» war der NS-Tarnbegriff für den Deportations- und Vernichtungsprozess. Brechtken verdeutlicht auch, dass Speer entgegen seinen lebenslangen Beteuerungen mit grösster Wahrscheinlichkeit 1943 bei der Posen-Rede anwesend war, als Heinrich Himmler versammelte NS-Funktionäre auf die «Endlösung» einschwor. Goebbels’ Zusammenfassung dieser Rede lässt keinen Interpretationsspielraum offen: Himmler trete «für die radikalste und härteste Lösung ein, nämlich dafür, das Judentum mit Kind und Kegel auszurotten».

Dass Speer wiederum, wie bereits vor Gericht in Nürnberg behauptet, im Februar 1945 ein Attentat auf Hitler geplant hatte: Dafür gibt es keinerlei Beweise. Als erwiesen gilt hingegen, dass Speer mit seinem hemmungslosen Ankurbeln der Rüstungsindustrie den Krieg entscheidend verlängert hat und so zumindest indirekt für den Tod von Abermillionen Menschen verantwortlich ist. Oder in Brechtkens Worten: «Speers Aufputsch-Rhetorik mittels Zahlenzauber und Goebbels antisemitische Hetze sind einander ergänzende Elemente desselben ideologischen Denkens, mit denen die Zuhörer zu weiteren Kriegsanstrengungen motiviert werden sollten.»

Statt die Erzählungen ihres Augenzeugen auf Hohlstellen abzuklopfen, sahen Fest und Siedler ihre Aufgabe vor allem darin, Speers dürftiges sprachliches Talent in wochenlangen Lektoratssitzungen schönzuschreiben, um seine Erinnerungen bestsellertauglich zu machen. Speers «Führer»-Anekdoten waren für den designierten Hitler-Biografen Fest zusätzlich kostbar: Elegisch nannte er Speer gar ein «Geschenk der Götter». Speer schönte somit nicht nur seine eigene Biografie, sondern nahm mit seinen zweifelhaften Anekdoten aus trauten Zwiegesprächen mit «dem Führer» auch auf das Hitler-Bild der Nachkriegszeit Einfluss. Mit «Ignoranz und Wissensferne» sei Speer zum «Wunschbild eines Zeitzeugen» verklärt worden, bilanziert Brechtken.

Im dubiosen Abglanz

Nach dem Riesenerfolg der «Erinnerungen» brachte der Siedler-Verlag ein paar Jahre später mit noch mehr Brimborium die «Spandauer Tagebücher» heraus. Buchhandlungen wurden angewiesen, zum Verkaufsstart des Buches ihre Schaufenster leer zu räumen und dort eine Woche lang als einziges Buch Speers «Tagebücher» auf schwarzem Tuch zu präsentieren, mit einem Foto des Autors. Eine Bühne für ein Fake: Obwohl der Titel suggeriert, der Text komme direkt aus der Gefängniszelle in Spandau, wurde auch dieses «Tagebuch» nachträglich in enger Zusammenarbeit mit Fest komponiert. In Fussnoten werden kleinere «Irrtümer» Speers korrigiert, was einen rigorosen Faktencheck vermuten lässt, der allerdings bezüglich viel gravierenderer Falschaussagen nie stattgefunden hat.

Bis zu seinem Tod war Speer ein gefragter Interviewpartner. Nicht nur der deutsche Umgang mit ihm offenbart ein Begehren nach Verdrängung und zugleich eine tiefsitzende Faszination für dieses in die Nachkriegszeit hinübergerettete leibhaftige Stück NS-Regime. Auch die BBC und zahlreiche US-Medien hingen an Speers Lippen. JournalistInnen aus aller Welt pilgerten nach Heidelberg, um ihn als historische Persönlichkeit zu interviewen. Nicht selten wurden sie in Speers Privatvilla bewirtet und in stunden-, auch tagelangen Gesprächssitzungen umgarnt.

Beim Lesen von Brechtkens Demontage der lukrativen Inszenierung von Speer und seiner HelferInnen überfällt einen der Gedanke, dass man Speer wohl besser zusammen mit den anderen Nazigrössen 1946 in Nürnberg gehenkt hätte. Doch natürlich geht es letztlich um etwas anderes: Der Fall Speer zeigt, wie gravierende öffentliche Lügen bestürzend leichtes Spiel hatten – schon lange bevor das Internet als Fake-News-Schleuder ins Visier kam. Speers Identifikationsangebot, konkrete Verantwortung und Mittäterschaft wo immer möglich zu verwischen, traf auf einen verbreiteten Wunsch nach Verharmlosung und Normalisierung. Auch seine publizistischen HelferInnen sonnten sich lieber im dubiosen Abglanz von Hitlers Freund, als seine Geschichten zu hinterfragen. Jahrzehntelang versagten die «kritische Öffentlichkeit» und ihre Instanzen oder wurden nicht gehört, obwohl es zahlreiche historische Studien und Quellen gegeben hätte – nicht zuletzt Speers eigene Reden aus der Nazizeit –, um ihn zu entlarven.

Magnus Brechtken: Albert Speer. Eine deutsche Karriere. Siedler Verlag. München 2017. 912 Seiten. 53 Franken