Opposition in der Türkei: Letzter Ausweg vor der Diktatur

Nr. 19 –

Vor den Wahlen Ende Juni stellt sich dem türkischen Präsidenten ein breites Bündnis entgegen. Zwar ist die HDP von der Allianz ausgeschlossen – ausgerechnet die Stimmen der KurdInnen könnten jedoch entscheidend sein.

Zumindest seinen Humor scheint Selahattin Demirtas auch nach achtzehn Monaten hinter Gittern nicht verloren zu haben. Vergangene Woche, nachdem seine HDP die Präsidentschaftskandidatur ihres ehemaligen Kovorsitzenden verkündet hatte, erzählte Demirtas in einem Interview von seinen begrenzten Wahlkampfmöglichkeiten. «Sollte ich in der Zelle eine Kundgebung abhalten wollen, würde lediglich eine Person teilnehmen», scherzte der kurdische Politiker. Aber angesichts des Ausnahmezustands könne auch die Situation draussen nicht als frei bezeichnet werden.

Dutzende Verfahren laufen gegen den charismatischen Hoffnungsträger einer progressiven Türkei, bei einer Verurteilung drohen ihm insgesamt 142 Jahre Haft. Dennoch: Wie aus dem Nichts steht Demirtas jetzt wieder auf der politischen Bühne – und gibt sich kämpferischer denn je: «Entweder wir schaffen es jetzt, Erdogan zu stürzen, oder es kommt eine zehnjährige Einmannherrschaft auf uns zu.»

Von Einigkeit keine Spur

Am 24. Juni finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. An diesem Tag soll auch die Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan endgültig zementiert werden. Dann tritt die Präsidialreform in Kraft, über deren Einführung die Bevölkerung vor einem Jahr abgestimmt hatte. Es ist der Tag, auf den Erdogan seit Jahren hinarbeitet. Künftig wird die Türkei keinen Ministerpräsidenten mehr haben, werden Armee und Justiz allein dem Staatsoberhaupt unterstellt sein. Damit wäre Erdogan am Ziel: noch vor dem Hundert-Jahr-Jubiläum der Republik so mächtig zu sein wie ihr Gründer Mustafa Kemal Atatürk. Die unwiderrufliche Übernahme der Macht war von langer Hand geplant. An diesem Tag Ende Juni soll der Sultan gekrönt werden.

Seit dem gescheiterten Militärputsch liess Erdogan Tausende Oppositionelle unter dem Vorwurf der «Terrorpropaganda» verhaften, liess praktisch alle Medien und die Justiz unter Kontrolle bringen, kritische JournalistInnen ins Gefängnis werfen. Im Südosten des Landes führt er Krieg gegen die kurdische Bevölkerung, und mit dem Angriff auf den syrisch-kurdischen Kanton Afrin brach er das Völkerrecht. Doch gerade diese Attacke bescherte dem Präsidenten viel Zuspruch unter den nationalistisch gesinnten WählerInnen. Um dieses Stimmungshoch für sich zu nutzen und weil er die drohende Wirtschaftskrise fürchtet, liess Erdogan die Wahl um ganze anderthalb Jahre vorverlegen.

Der neue Wahltermin Ende Juni hat jedoch auch einen anderen Grund: Erdogans Angst vor einer erstarkten Opposition, die seinen absoluten Machtanspruch gefährden könnte.

Eben diese Opposition hat sich überraschend zur sogenannten Nationalen Allianz formiert. Bei der Parlamentswahl treten die sozialdemokratische CHP, die rechtsnationale Iyi-Partei, die islamistische Saadet-Partei und die bürgerliche DP nun gemeinsam an. Das Bündnis ermöglicht hatte ausgerechnet Erdogan selbst. Er liess das Wahlrecht ändern, damit seine AKP gemeinsam mit der rechtsextremen MHP auf Stimmenfang gehen kann.

Was der Nationalen Allianz fehlt, ist ein gemeinsamer Präsidentschaftskandidat, der die Bevölkerung einen könnte. Zwar war Abdullah Gül, ehemaliges Staatsoberhaupt und inzwischen ein prominenter Kritiker der Regierung, im Gespräch. Er erteilte dem Bündnis jedoch eine Absage – offiziell, weil er die Uneinigkeit der Opposition beklagte. Manche behaupten jedoch, er habe sich unter Druck zurückgezogen. Nun tritt die religiös-nationalistische Hardlinerin und ehemalige MHP-Politikerin Meral Aksener für die Iyi-Partei an. Die CHP soll derweil Muharrem Ince in den Wahlkampf führen, ein Urgestein der Partei. Sollte es einen zweiten Wahlgang geben, wollen die Mitglieder der Allianz die Gegenkandidatur unterstützen.

Kemalistische Charmeoffensive

Güls Kritik trifft einen Nerv. Nach Jahren der Uneinigkeit, in denen Erdogan immer mächtiger wurde, kommt das Mitte-rechts-Bündnis reichlich spät. Und die Unfähigkeit, sich auf eine gemeinsame Kandidatur zu einigen, lässt eine wertvolle Chance ungenutzt. Erdogan selbst wird derweil nichts unversucht lassen, um die Wahl zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Aussen vor bleibt bei der Wahlarithmetik einmal mehr die HDP. Zwar wird die Kandidatur von Demirtas wohl viele kurdische und linke WählerInnen mobilisieren, die ansonsten zu Hause bleiben würden. Entsprechend könnte die Partei die Zehnprozenthürde überspringen. In die Stichwahl gegen Erdogan wird Demirtas es zwar kaum schaffen. Gerade dann aber kommt es auf die progressiven Stimmen an.

Meral Aksener wird diese Stimmen eher nicht bekommen. Zu präsent sind vielen noch die Todesschwadronen in kurdischen Dörfern, die Aksener als Innenministerin in den neunziger Jahren verantwortete. Und CHP-Kandidat Ince startete zwar eine taktische Charmeoffensive, als er Erdogan aufforderte, Demirtas für den Wahlkampf freizulassen. Doch auch er dürfte bei vielen KurdInnen nicht besonders beliebt sein: Viele haben nicht vergessen, dass die CHP Erdogans kurdenfeindliche Politik stets mitgetragen hatte.