Von oben herab: Skepsis, Mädels!

Nr. 19 –

Stefan Gärtner weiss, wieso das Entlebuch Masern hat

Neuerdings hat es ja wieder Masern, auch in der Schweiz, wo im laufenden Jahr 160 Fälle gemeldet wurden. Das Bundesamt für Gesundheit hat Zahlen zur Infektionshäufigkeit veröffentlicht, wonach es in den letzten dreissig Jahren die meisten Erkrankten im luzernischen Entlebuch gab, und der Präsident der Ärztegesellschaft des Kantons Luzern sagt, da sei halt auch die Impfskepsis stark: «Viele Menschen dort glaubten, dass man die Kinderkrankheiten ‹individuell durchmachen› müsse, das sei natürlich, die Impfung hingegen sei es nicht» («SonntagsZeitung»), so wenig wie eine Brille, die Vollnarkose oder worauf man sonst, da künstlich, so gut verzichten kann. Auch anthroposophisch orientierte Menschen lehnen das Impfen eher ab, und der «Cocktail aus Skepsis, Irrglaube und Naturheilkunde» führt dann dazu, dass plötzlich Krankheiten unterwegs sind, die es längst nicht mehr geben müsste.

Direkt beneidenswert, welchen Einfluss diese Skepsis hat, die sogar über Leben und Tod entscheidet: Zwei Deutschschweizer, dreissig und siebzig Jahre alt, sind jetzt an den Masern gestorben. Meine Skepsis dagegen ist eine vielleicht unterhaltsame, aber völlig folgenlose. Gestern Nachmittag auf dem Spielplatz etwa war ich mal wieder der einzige Skeptiker: Die lärmende Grossfamilie aus der unteren Mittelschicht war ganz einverstanden mit dem, was in der «Bild»-Zeitung über Hartz-IV-Kundschaft steht, jedenfalls machte die Mutter einen entsprechenden Witz, und eine Etage drüber räumte die Studierte in der unvermeidlichen Resilienzjacke unter der unvermeidlich mit «Alles gut» präludierten Mitteilung ihre Bankhälfte, sie wolle sich eh in die Nähe der spielenden Töchter begeben, nämlich ihrer, igitt, «Mädels».

Es ist mir völlig unverständlich, wie eine, die keine Sekunde zögern würde, sich zum Bildungsbürgertum zu rechnen, ihre eigenen Töchter, die das Patriarchat noch früh genug kennenlernen werden, mit diesem herabwürdigenden Werbedreckswort belegen kann, beziehungsweise ist es mir leider verständlich genug, denn sie tuns ja praktisch alle: «Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei», und da würde ich Meister Adorno sogar sehr ausnahmsweise verbessern wollen: Nichts, wirklich nichts macht mich derart fertig wie der eilfertig krähende Konformismus dieser Leute, die es weissgott besser wissen könnten. Aber dazu müssten sie freilich meine Kolumnen lesen («Mädchen werden zu Frauen; Mädels sind dagegen altersunabhängig Kommerz- und Verwertungsobjekte, die in den Jungs ihr Komplement finden», Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück, 15. 7. 2018) und nicht ihre liberalen Scheisszeitungen, die aus Kindern «Kids» machen, weil das die Sprache der Werbung und der Apparate ist, und da fühlt sich dieselbe Mittelschicht pudelwohl, die uns mit ihrer lähmend sackdummen, zutiefst reaktionären Impfskepsis lästig fällt.

Denn nichts ist klarer, als dass diese Skepsis nur die Kehrseite verbissenster Konformität ist, die Skepsis nur da erlaubt, wo sie wiederum mit irgendeinem höheren, nämlich niederen Imperativ zusammenfällt, etwa dem der «Natürlichkeit», und dass man ständig irgendwo «durch» müsse, und hier kämen jetzt wieder die Jacken, die genau dieses Ideologem abbilden, auch bei denen, die für Impfskepsis zu faul oder ausnahmsweise nicht beschränkt genug sind. «Draussen zuhause», liebe Esel und Eselinnen, ist nichts weiter als eine neoliberale Parole, und das ist euch nicht einmal egal, denn dazu müsstet ihr es wissen oder wenigstens sehen, aber das geht nicht, wenn man sichs unter der Parole eingerichtet hat, dass alles gut sei.

Und da muss nun wiederum ich jeden Tag durch. Es ist direkt zum Ausschlagkriegen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.