Notre-Dame: Die Hohepriester der Restaurierung

Nr. 42 –

Hinter hohen Palisaden und Nato-Draht wird die gefährlich bröckelnde Brandruine von Notre-Dame für die Restaurierung vorbereitet. Doch der gestalterische Spielraum ist eng, und die Politik macht auch keine gute Figur.

Paris, auf der Île de la Cité: Der Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame ist durch mehr als mannshohe Metallpalisaden in Gänze abgesperrt. Zur Kirche hin werden diese noch gut einen Meter höher: Sie umzäunen die gesamte Anlage mitsamt dem am Ostende gelegenen Garten. Auf ihrem oberen Rand kringelt sich sogenannter Nato-Draht mit rasiermesserscharfen Klingen; alle paar Meter gibt es einen Bewegungsmelder. TouristInnen aus aller Welt schiessen im Vorübergehen Fotos der lädierten Nordfassade. Wissen sie, was hinter den Palisaden vorgeht? Seit dem Grossbrand am 15. April sind sechs Monate vergangen – Gelegenheit für eine Zwischenbilanz.

Problem: Zu viel Geld

Notre-Dame befindet sich noch immer in der akuten Rettungsphase. Die Gefahr eines teilweisen Einsturzes besteht weiterhin. Durch die Brandhitze und das Löschwasser wurde der Mörtel zwischen den Steinen gelockert. Mit dem Dachgebälk und einem Teil des Deckengewölbes ist auch die legendäre thermische und hygrometrische Stabilität der Kirche zusammengebrochen. Die Luftfeuchtigkeit schwankt je nach Wetterlage zwischen fünfzig und neunzig Prozent. Während der Hundstage diesen Sommer wurden bis zu 39 Grad am Boden und sogar 52 Grad unter der Decke gemessen. An einigen Stellen lösten sich Steine aus dem Gewölbe. Das alles schwächt die Struktur, zumal aufgrund der gotischen Bauweise die Destabilisierung eines Elements andere Elemente an ganz anderer Stelle in Mitleidenschaft ziehen kann. Sensoren, im ganzen Bau verteilt, registrieren jede noch so minimale Bewegung.

Nicht zuletzt geht nach wie vor eine Gefahr von dem viele Hundert Tonnen schweren Gerüst aus, das im Frühjahr vor dem Brand zwecks Restaurierungsarbeiten um den als Dachreiter aufgesetzten Vierungsturm herum errichtet worden war. Zwar ist dieses im Gegensatz zum Turm nicht eingestürzt, doch sind seine Stahlröhren aufgrund der Brandhitze miteinander verschmolzen. So muss ein zweites, ungleich grösseres Gerüst um das erste herumgebaut werden, von dem sich dann Industriekletterer abseilen werden, um die Röhren in mühevoller Kleinarbeit abzusägen. Nach Vollendung dieser Abbauaktion, wohl Mitte 2020, soll endlich ein Riesenschirm über dem abgebrannten Dach errichtet werden. Erst dann, wenn das Hauptschiff solcherart geschützt ist, dürfte die Kathedrale hinreichend konsolidiert sein, damit das Risiko einer strapaziösen Restaurierung eingegangen werden kann.

Der Begriff «Restaurierung» wird hier bewusst dem Wort «Wiederaufbau» vorgezogen. Als Struktur – das heisst als Bau – steht Notre-Dame noch. Dem Brand zum Opfer gefallen sind lediglich (wenn man so sagen kann) das Dachgebälk, der Vierungsturm und etwa fünfzehn Prozent des Deckengewölbes. Die Kunstschätze der Kirche – Malereien, Tapisserien, Buntglasfenster – wurden fast ausnahmslos gerettet. Die sechzehn Skulpturen des Vierungsturms waren kurz vor dem Brand zwecks Restaurierung abgenommen worden. Der Nachbau der zerstörten Elemente dürfte keine unlösbaren technischen oder künstlerischen Probleme aufwerfen.

Und auch keine finanziellen. In den Tagen nach dem Brand haben Hunderttausende grosszügige GeberInnen im In- und Ausland Spenden versprochen – einfache Bürgerinnen und Milliardäre, Kleinunternehmen und Multinationale, Gemeinden und andere Gebietskörperschaften. Die Summe der bis heute eingetroffenen oder verbindlich zugesagten Zahlungen beträgt rund 800 Millionen Euro. Diese Grosszügigkeit wirft freilich ein praktisches und ein grundsätzliches Problem auf. Fachleute siedeln die Kosten der Bauarbeiten eher in der Grössenordnung von 400 Millionen Euro an. Ein Ende Juli verabschiedetes Ausnahmegesetz zur Restaurierung der Kathedrale und zur Einrahmung der entsprechenden Spendenaktion sieht nun aber vor, dass die gesammelten Gelder nur für Notre-Dame verwendet werden dürfen. Einen allfälligen Überschuss hätte man beispielsweise Frankreichs übrigen Kathedralen zugutekommen lassen können, die zum Teil in einem erbärmlichen Zustand sind. Doch der Gesetzgeber – beziehungsweise die in diesem Fall federführende französische Regierung – hat das ausdrücklich verboten. Was also tun mit den zu erwartenden überschüssigen Millionen?

Ausserdem ermöglicht der Geldsegen, die Restaurierung allein aus dem Spendentopf zu finanzieren. Dabei wäre der Staat hier gleich doppelt gefordert gewesen: um sich als – gegen Brandschäden nicht versicherter – Besitzer der Kathedrale nicht aus der Verantwortung zu stehlen und um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, der Unterhalt von Baudenkmälern sei eine Sondergunst von SpenderInnen, nicht eine Pflicht der öffentlichen Hand.

Mit ihrer Handhabung des Grossbrands und seiner Folgen haben sich Frankreichs Kulturminister, der Premierminister und sogar der Präsident alles andere als mit Ruhm bekleckert. Von souveräner Krisenbewältigung kann keine Rede sein. Was auch immer die laufende Suche nach der Brandursache ergeben mag – schon jetzt steht fest, dass am 15. April aufgrund von Sparmassnahmen bloss ein Sicherheitsmann in der Kommandozentrale sass – statt wie ursprünglich deren zwei. Zudem war der bedauernswerte Anwesende ganz neu im Einsatz und lenkte, mit dem Riesenbau nicht vertraut, beim Ertönen des ersten Alarmsignals die Suche in die falsche Richtung. So verstrichen dreissig entscheidende Minuten, bis der Brand gefunden und die Feuerwehr gerufen wurde. Die Liste der Verfehlungen zählt noch ein halbes Dutzend weiterer Punkte auf, von der Nichtbeachtung eines durch das Centre national de la recherche scientifique 2016 finanzierten Berichts über die unzureichenden Brandschutzvorrichtungen in der Kathedrale bis zur stillschweigenden Duldung nichtautorisierter elektrischer Leitungen im Dachgebälk und im Vierungsturm.

Unter Denkmalschutz

Doch statt auch nur ansatzweise Selbstkritik zu üben, führten sich die genannten Spitzenpolitiker wie Hohepriester eines mit der Spendendose in der Hand ausgeführten Wiedererweckungsrituals auf. Dabei tappten sie mit ihren Initiativen von einem Fettnäpfchen ins andere. Präsident Emmanuel Macron befristete schon am Folgetag des Brands die Restaurierungsarbeiten auf fünf Jahre. Das heisst, die Dauer der Behandlung zu dekretieren, bevor die Diagnose gestellt wurde. Der Kulturminister Franck Riester versuchte seinerseits – eben um diese knappe Frist einhalten zu können –, ein Ausnahmegesetz durchzudrücken, das einen Gutteil von Frankreichs Vorschriften im Umgang mit Baudenkmälern ausser Kraft gesetzt hätte. Besonnene Geister in der zweiten Kammer des Parlaments schoben dem zum Glück einen Riegel vor. Der Premierminister Édouard Philippe schliesslich kündigte einen internationalen Wettbewerb für die Gestaltung des Vierungsturms an. Als ob es hier den geringsten Spielraum gäbe: Der eingestürzte Turm stand unter Denkmalschutz und überdies – wie auch die Kathedrale als Ganzes und die umgebenden Seine-Ufer – auf der Weltkulturerbeliste der Unesco. Alle massgebenden, international anerkannten Texte zur Denkmalpflege schreiben vor, dass Bauwerke, die einen Schadensfall erleiden, identisch zu restaurieren sind, sofern die Dokumentationslage das erlaubt. Dabei ist es unerheblich, dass der Vierungsturm von Notre-Dame wie andere Teile des zwischen 1163 und 1345 sukzessive errichteten Baus aus viel späterer Zeit stammt. Diese Hinzufügungen zur Kathedrale sind längst selbst historisch. Sie stammten von Eugène Viollet-le-Duc, einem der bedeutendsten Architekten und Theoretiker des 19. Jahrhunderts.

Wie für den Louvre, das Schloss von Versailles und andere Architekturikonen weltweit gibt es für Notre-Dame keinen «Idealzustand», den es unter späteren Schichten freizulegen gälte. Die Kathedrale ist ein – unserer Tage per Gesetz abgeschlossenes – Palimpsest, keine Projektionsfläche für die Fantasie lebender Baukünstler. Oder für den Geltungsdrang denkmalpflegerisch unbeleckter Politiker.