Shoah: Zerbrechliche Erinnerungen

Nr. 46 –

Es muss nicht immer Auschwitz sein: Das Jüdische Museum Hohenems rollt die Frage nach dem Ende der Zeitzeugenschaft der Shoah von der Peripherie her auf und stellt dabei das Wie des Erinnerns ins Zentrum.

Das Gespräch als Bühneninszenierung: Die Ausstellung setzt sich mit der «Gemachtheit» von Interviews mit ZeitzeugInnen der Shoah auseinander. Foto: Dietmar Walser

Was geschieht, wenn die letzten Überlebenden der Shoah gestorben sind? Diese Frage treibt angesichts des wachsenden Antisemitismus, der auch vor offener Gewalt gegen JüdInnen und jüdische Einrichtungen nicht mehr zurückschreckt, viele Menschen in Deutschland und Europa um.

Auch Lukas Bärfuss griff sie Anfang November in seiner Dankesrede zur Verleihung des Büchner-Preises mit der rituellen Formel «Wie das alles nur hatte geschehen können» auf, um sich voller Pathos Auschwitz biografisch anzueignen: «Dort bin ich geblieben, dort bin ich noch immer. An diesem Ort, mit dieser Frage. Sie hat mich gebildet. Ihr fühle ich mich verpflichtet.» Eine Auschwitzüberlebende sei es auch gewesen, die ihn daran erinnert habe, dass nach Kriegsende die nationalsozialistischen Eliten bis in die höchsten Staatsämter weiterwirkten. Wer, so fragt Bärfuss sein Publikum, werde «uns all dies in Zukunft ins Gedächtnis rufen»?

Jenseits der Megagedenkstätten

Das bevorstehende Ende der ZeitzeugInnen ist nicht das Ende der Zeitzeugenschaft: Dafür garantieren Zehntausende von Interviews mit Überlebenden der Shoah, die seit der Befreiung des ersten Konzentrationslagers im Frühsommer 1944 geführt worden sind und in Archiven weltweit aufbewahrt werden. Die historischen Quellen, um die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten, sind da. Die entscheidende Frage ist: Wie pflegen wir künftig den Umgang mit ihnen?

Dieser Frage widmet das Jüdische Museum Hohenems seine neue Ausstellung, indem diese den Fokus vom Was, also dem Faktischen des Erinnerten, auf das Wie verlagert: Wie sind die Zeugnisse der Überlebenden zustande gekommen? Wie formt sich aus den Erinnerungen eine Erzählung? Wie haben sich die ZeitzeugInnenbefragungen im Lauf der Zeit verändert?

Es sind Fragen, die dazu einladen, sich neu auf die ZeitzeugInnen einzulassen. Und Orte wie Hohenems oder die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, die ebenfalls an der Ausstellung beteiligt ist, sind ein idealer Ausgangspunkt dazu. In diesen «peripheren Räumen», wie sie Kokurator Jörg Skriebeleit nennt, lasse sich nicht nur kritischer, differenzierter und auch experimenteller mit grossen Fragen umgehen als in Megagedenkstätten. Die regionalen Interviewbestände aus dem Vorarlberg, die die Grundlage der Ausstellung bilden, zeigten auch, dass über periphere Räume anders erzählt wird als über «Abgrundorte wie Auschwitz».

Wie anders, hat das KuratorInnenteam unter der Leitung von Anika Reichwald in minutiöser Auseinandersetzung mit diesem Interviewmaterial herausgearbeitet. Immer mit dem Fokus auf die «Gemachtheit» solcher ZeitzeugInnengespräche. Was zuallererst bedeutet, das Gespräch als Bühneninszenierung zu begreifen – nicht nur in Bezug auf das technische Setting mit Licht, Mikrofon, Kamera, Make-up, sondern vor allem mit Blick auf die Dramaturgie: Wo hakt der Interviewer nach, wo unterbricht er oder wechselt das Thema? Was betont die Zeitzeugin, wo lässt sie Fragen unbeantwortet, weicht aus oder verweigert eine Antwort?

Sinne schärfen

Neun spezifische Erinnerungsformen, die auch auf unterschiedliche Strategien zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen verweisen, haben Reichwald und ihr Team aus den Erzählungen der ZeitzeugInnen herausdestilliert und jeweils am Beispiel einer Person mit einem kurzen Ausschnitt illustriert. Der eine konstruiert aus seiner Flucht eine Heldengeschichte, die andere formt ihre Geschichte zu einem rhetorisch-moralisch aufgeladenen Appell ans Publikum. Viele schaffen es nicht, ihre Erinnerungen chronologisch abzurufen; einige verknüpfen ihre Erfahrungen stattdessen assoziativ – beides macht es für Aussenstehende schwer, ihrem Redefluss zu folgen. Manche versuchen, mit einer betont nüchtern-sachlichen Sprache den Horror des Erinnerten auf Distanz zu halten. Doch mitunter bricht das Verdrängte unerwartet und emotional heftig durch, getriggert etwa vom Namen einer nahestehenden Person.

Das Flüchtige, Zerbrechliche dieser Erinnerungen wird durch das Design der Ausstellung noch betont: Der Raum ist klein, das gedämpfte Licht verstärkt die Intimität, in der wir den ZeitzeugInnen auf Augenhöhe begegnen können – auf Bildschirmen, die in filigrane Stelen aus Glas eingelassen und kreisrund angeordnet sind. Die Begegnung ist als Akt bewusster Interaktion konzipiert: Unter jedem Bildschirm wartet ein grosser roter Kreis darauf, dass man sich mit dem ebenfalls roten, überdimensionierten Stecker seines Kopfhörersets einloggt. «Man muss sich einlassen wollen auf die Zeitzeugen», sagt Museumsleiter Hanno Loewy. «Das Angebot fordert zur Selbstreflexion auf.» Sei es für zwei, drei Minuten, sei es für die Länge eines ganzen, ungeschnittenen Interviews von bis zu zweieinhalb Stunden, das man an einer der Videostationen im dritten und letzten Raum der Ausstellung verfolgen kann. Sitzenbleiben und Zuhören als Akt der Respektsbekundung.

Dafür haben uns die klug ausgewählten audiovisuellen Quellen und Exponate im hell erleuchteten Zwischenraum die Sinne geschärft. Sie thematisieren den Wandel der Zeitzeugenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg und die oft ambivalenten Rollen, die den Überlebenden darin zugeschrieben wurden. Dabei verweisen die Exponate – Kamera, Schreibmaschine, Fragebogen – stets auf das Wie der Zeitzeugenschaft. Standen die Überlebenden anfangs als AugenzeugInnen im Zentrum des Interesses, verschwanden sie im Zuge des Kalten Krieges weitgehend aus der Öffentlichkeit, betraten allenfalls noch als politisch instrumentalisierte StatistInnen die Bühne, um etwa die Rolle der US-Amerikaner als Befreier Europas zu bezeugen. In den Täterprozessen der sechziger Jahre dann tauchten sie als TatzeugInnen wieder auf – ihre Erinnerungen auf die Verifizierung von Fakten reduziert, und wo sie dies nicht zu leisten vermochten, in ihrer Glaubwürdigkeit angezweifelt, während gleichzeitig viele Täter mit ihrem eigenen «Opfernarrativ» die Öffentlichkeit suchten, um eine alternative Erinnerungskultur zu schaffen. Eine doppelte Demütigung der Überlebenden.

Erst Ende der siebziger Jahre setzte in der Öffentlichkeit eine breitere Diskussion um Mitwissertum und Verantwortung ein. Überlebende der Shoah begannen derweil, ihre eigene Zeitzeugenschaft kritisch zu reflektieren. «Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen», so Primo Levi. «Vielmehr sind sie, die ‹Muselmänner›, die Untergegangenen, die eigentlichen Zeugen, jene, deren Aussagen eine allgemeinere Bedeutung gehabt hätten. Sie sind die Regel, wir die Ausnahme.» Als «Muselmänner» wurden in der Lagersprache die bis auf die Knochen abgemagerten Mithäftlinge bezeichnet, die kurz vor der Agonie standen.

«Pizza in Auschwitz»

Das Ende des Kalten Krieges schliesslich läutete eine Pluralisierung der Stimmen und einen regelrechten Erinnerungsboom ein, ausgelöst durch Steven Spielbergs «Schindlers Liste» (1993). Namentlich in Israel meldeten sich auch die Kinder der Überlebenden zu Wort und kritisierten die politisch-ideologische Überhöhung der ZeitzeugInnen. Eindrückliches Beispiel dafür ist der Dokumentarfilm «Pizza in Auschwitz» (2008), in dem ein Überlebender seine Kinder nötigt, ihn nach Auschwitz zu begleiten und dort das Personal der Gedenkstätte mit seinen selbstgerechten Forderungen völlig überfährt.

Und die Zukunft? Ein Werbefilm der Shoah Foundation zeigt, wie mittels 3-D-Hologrammen von ZeitzeugInnen die «Magie im Raum» auch über deren Ableben hinaus erhalten werden kann: Hat die Person erst einmal auf über 2000 Fragen geantwortet und ist dabei von rund fünfzig Kameras gefilmt worden, kann sie als 3-D-Hologramm vor ein Publikum projiziert und von diesem befragt werden. Ein Algorithmus sorgt dafür, dass die jeweils passende Antwort abgespielt wird. Mit solch neuen technischen Möglichkeiten stellt sich auch die Frage des Wie mit wachsender Dringlichkeit.

Die Ausstellung «Ende der Zeitzeugenschaft?» im Jüdischen Museum Hohenems dauert bis 13. April 2020. Danach wandert sie weiter zu Museen und Gedenkstätten unter anderem in Flossenbürg, München und Berlin. Öffnungszeiten und Begleitprogramm: www.jm-hohenems.at.