Rechtsstreit um Polizeieinsatz: Der Berner Maulkorb

Nr. 47 –

Ein junger Demonstrant geht juristisch gegen einen Polizeieinsatz vor. In der Folge wird er selbst angeklagt und zum Schweigen verpflichtet. Rekonstruktion eines fragwürdigen juristischen Falls in der Bundeshauptstadt.

«Es ging darum, kritische Berichterstattung über das Verfahren gegen einen Polizisten zu verhindern»: Mittlerweile darf Benjamin Stückelberger über den Vorfall reden.

Vor zwei Jahren wollte Benjamin Stückelberger in der Berner Altstadt gegen Faschismus und Rassismus demonstrieren. Aber Polizeikontrollen verhinderten, dass die unbewilligte Demonstration stattfand. Die Verhinderung sei ein klarer Auftrag gewesen, wird ein Polizist später sagen.

Während PolizistInnen Stückelbergers ID kontrollieren, wird er Zeuge einer Verhaftung, bei der jemand zu Boden gedrückt wird. Stückelberger, aktives Juso-Mitglied, zückt das Handy und filmt den Vorfall. Ein Polizist ruft, er solle aufhören. Stückelberger filmt weiter. Dann packt ihn der Polizist am Kragen. Kurz darauf habe der Polizist ihn dazu gedrängt, das Material zu löschen, sagt Stückelberger. Deshalb erstattete er in der Woche nach dem Vorfall Anzeige wegen Nötigung und Amtsmissbrauch.

Später gab der Polizist gegenüber der Staatsanwaltschaft an, Benjamin Stückelberger habe das Video beim Wortwechsel in der Seitenstrasse freiwillig gelöscht. Er erinnere sich an ein ruhiges, beinahe angenehmes Gespräch. Stückelberger beschreibt das Geschehen ganz anders: «Er hat mir gedroht: Wenn ich das Video nicht lösche, würde man mein Handy beschlagnahmen und mich auf den Posten bringen.» Der Polizist habe sogar noch nach dem Ordner mit den gelöschten Dateien gefragt.

So schilderte es Stückelberger auch dem Beamten bei der Einvernahme, als er in der Woche nach dem Geschehen Anzeige gegen unbekannt erstattete. Der Jusstudent sagt, er habe sich für eine Anzeige entschieden, weil er auf die Klärung einer offenen Frage hoffte: Darf man PolizistInnen im Einsatz filmen?

Die Frage ist im Kanton Bern, wo eine Kennzeichnungspflicht für PolizeibeamtInnen fehlt, besonders dringlich. AL-Grossrätin Christa Ammann hat selbst schon Einsätze miterlebt, bei denen PolizistInnen Filmaufnahmen untersagen wollten. «Das staatliche Gewaltmonopol muss das Filmen aushalten», ist die Politikerin überzeugt, alles andere wäre nicht verhältnismässig. Vor rund einem Jahr thematisierte sie dies in einer Anfrage an die Berner Regierung: Manche PolizistInnen würden das Filmen verbieten, verhindern oder erschweren, in dem sie sich «zwischen die filmende Person und das Ereignis stellen». Die Antwort des Regierungsrats: Man dürfe PolizistInnen filmen, wenn die Polizeiaktion im Vordergrund steht. Die Veröffentlichung von Material, bei dem PolizistInnen identifizierbar sind, ist hingegen nicht erlaubt.

Ammann, die ebenfalls gegen öffentliche Pranger ist, fand die Antwort zumindest teilweise erhellend. Sie glaubt, dass eine Ombudsstelle für Beamtenhandlungen – wie sie etwa die Stadt und der Kanton Zürich oder der Kanton Basel-Landschaft kennen – auch bei Verdacht auf polizeiliche Willkür Klärung bringen könnte. Womöglich auch in Situationen, wie sie Stückelberger erlebt hat. Ammann kennt den Fall und findet «besonders den zweiten Teil der Geschichte, der nichts mit dem Filmen zu tun hat, merkwürdig».

Anderthalb Jahre Schweigezwang

Über diesen zweiten Teil darf Stückelberger erst seit Mitte September wieder sprechen. Anderthalb Jahre lang war es ihm untersagt, über das Verfahren zu reden. Anfang März 2018, bei der Einvernahme des beschuldigten Polizisten, stellte dessen Anwältin den Antrag, Stückelberger eine Stillschweigeverfügung aufzuerlegen. Der Staatsanwalt hiess den Antrag gut. Von da an wäre Stückelberger mit einer Busse von bis zu 10 000 Franken bestraft worden, hätte er über das Verfahren gesprochen.

Begründet wurde der Antrag mit der Unschuldsvermutung. Da Stückelberger das in der Polizeikontrolle Erlebte an die Medien gebracht habe, müsse man damit rechnen, dass auch neue Informationen journalistisch verwendet würden. Der beschuldigte Beamte, so liest man im Antrag, wurde vor fast zehn Jahren im Internet als Polizist geoutet und danach bedroht. Nur wenn man Stückelberger das Reden verbiete, sei der Polizist geschützt.

Stückelberger hat noch nie im Internet gehetzt, geschweige denn PolizistInnen geoutet – wieso wird er dann mit einer schweren Persönlichkeitsverletzung in Verbindung gebracht? Die Situation überfordert ihn. Im Juli 2018 holt er sich eine eigene Rechtsvertretung, den Anwalt Dominic Nellen. Nellen sagt, er habe eine Stillschweigeverfügung wie diese noch nie erlebt. Allenfalls würden solche Geheimhaltungspflichten für kurze Zeit angeordnet, etwa damit sich ZeugInnen nicht absprechen. «Ich bin viel im Strafrecht tätig. So was ist mir auch nicht in grossen Verfahren mit weit schwerwiegenderen Vorwürfen begegnet.» Aber es kommt noch dicker: Kaum hat Stückelberger einen Anwalt, wird er selbst zum Beschuldigten. Der Vorwurf: Hinderung einer Amtshandlung.

Die PolizistInnen, die Stückelbergers Gruppe kontrollierten, sollen wegen dessen Kamera – die sich eigentlich auf eine andere PolizistInnengruppe richtete – zu Boden geschaut und sich abgedreht haben. Ihre Konzentration sei gestört gewesen. Stückelberger wird zu einem Beschuldigten, dem es bei Strafe verboten ist, über das Vorgefallene zu sprechen. Nellens Antrag auf Aufhebung der Stillschweigeverfügung lehnt die Staatsanwaltschaft ab.

«Natürlich gilt für Polizistinnen und Polizisten die Unschuldsvermutung», sagt Stückelberger. Der Maulkorb zielte seiner Ansicht nach aber auf etwas anderes: «Es ging darum, kritische Berichterstattung über das Verfahren gegen einen Polizisten zu verhindern.»

Ähnlich beurteilt das Medienanwalt Martin Steiger, dem die WOZ die Verfahrensunterlagen zur Einschätzung vorgelegt hat: Die Verfügung habe sich nur «pro forma» gegen Stückelberger gerichtet. Es bestehe keine Verbindung zwischen diesem Fall und jenem, bei dem der Polizist im Internet geoutet worden sei. Darum sei klar, dass man die eigentliche Gefahr in den Medien gesehen habe. «Das ist im Zusammenhang mit der Medienfreiheit, gerade wenn es um staatlichen Zwang geht, fragwürdig.»

Zum Schutz des Polizisten?

Die Berner Staatsanwaltschaft sieht das anders. «Eine mediale Berichterstattung kann in diesen Fällen spätestens nach Abschluss der geheimen Untersuchung erfolgen», schreibt der verantwortliche Staatsanwalt Florian Walser auf Anfrage. Die Medienberichterstattung werde also nicht verhindert, sondern bloss verschoben. Das Recht der Öffentlichkeit auf Information müsse gegen die Unschuldsvermutung und den Untersuchungszweck, die Wahrheitsfindung, abgewogen werden. Walser war bis Juli 2018 Chef der Kriminalpolizei Freiburg. Mit dem Stellenantritt bei der Berner Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben im August 2018 übernahm er Stückelbergers Fall.

Zwar hat Walsers Vorgänger die Stillschweigeverfügung angeordnet, aber Walser selbst hat sie nach Nellens Wiedererwägungsantrag aufrechterhalten. Er hält sie weiterhin für verhältnismässig. Dass Stückelberger selbst zum Beschuldigten geworden sei, habe daran nichts geändert: «Er hätte nicht über den Sachverhalt reden können, ohne die Unschuldsvermutung des ‹Erstbeschuldigten› zu tangieren.» Ebenfalls wegen der Unschuldsvermutung in Bezug auf den Polizisten sei es «nicht unproblematisch», dass Stückelberger zu den Medien gegangen sei, bevor er Anzeige erstattet habe.

In keinem der Medienberichte über die Polizeikontrolle gibt es Hinweise auf die Identität des Polizisten. Wie auch? Stückelberger hat gar nicht gewusst, um wen es sich handelt. Dieses Pochen auf die Unschuldsvermutung vonseiten der Staatsanwaltschaft hält Stückelbergers Anwalt für vorgeschoben: «Die Unschuldsvermutung gilt immer – dann dürfte nie über ein Strafverfahren gesprochen oder berichtet werden.» Aber das sei ja auch allen bewusst.

«Es ist klar, dass man die Persönlichkeitsrechte von Betroffenen nicht verletzen darf», so Nellen. Das gilt besonders für JournalistInnen: Sie dürfen niemanden an einen öffentlichen Pranger stellen und nicht vorverurteilend berichten. Medienanwalt Steiger sieht es gleich: «Gerade bei Journalisten darf man davon ausgehen, dass sie den Persönlichkeitsschutz berücksichtigen.»

Im Frühjahr entschied die Staatsanwaltschaft, sowohl das Verfahren gegen Stückelberger als auch jenes gegen den Polizisten einzustellen, da eine Verurteilung in beiden Fällen unwahrscheinlich sei. Stückelberger reichte beim Berner Obergericht Beschwerde ein, die Staatsanwaltschaft habe den Sachverhalt falsch dargestellt. Dieses lehnte die Beschwerde jedoch ab.

Stückelberger darf wieder reden. Doch es bleibt ein ungutes Gefühl – auch bei seinem Anwalt Nellen: «Es bleibt der Beigeschmack, dass die Stillschweigeverfügung durch eine Nähe von Staatsanwaltschaft und Polizei zustande gekommen ist.»

Darf man die Polizei filmen?

PolizistInnen müssen es «grundsätzlich dulden», wenn sie im Einsatz gefilmt oder fotografiert werden. So steht es in einem Merkblatt des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter. Die Schweizer Polizeikorps kennen verschiedene Massnahmen, die die BeamtInnen darauf sensibilisieren sollen: Der Umgang mit Filmaufnahmen wird in den Kantonen Zürich, St. Gallen und Basel-Stadt in der Polizeischule thematisiert, die Stadtpolizei Zürich kennt ein internes Merkblatt, die Kantonspolizei Luzern eine entsprechende Weisung.

Das Filmen allein sei nie ein Grund für eine Anzeige wegen Hinderung einer Amtshandlung, sagt der Sprecher der Kantonspolizei Basel-Stadt. Doch es bleibt ein Graubereich: Haben PolizistInnen das Gefühl, dass sie auf einer Aufnahme erkennbar seien oder dass ihr Einsatz durch die filmende Person gestört sei, können sie anordnen, dass die filmende Person mehr Abstand halten muss. Verweigert sich die Person dieser oder anderen Anordnungen, kann ihr ein Strafverfahren drohen.