Kost und Logis: Angola–Grönland 1 : 1

Nr. 16 –

Jürg Fischer kriegt nicht so schnell Vögel

Dass seit November auf unserem Balkon eine aufgeschnittene Kokosnuss mit Fett und Samen drin hing, interessierte den ganzen Winter über keinen einzigen Vogel. Doch kaum hatte der Bundesrat die ausserordentliche Lage ausgerufen, tauchten zwei Meisen auf und machten sich über den Notvorrat her.

Anfang März habe ich «Eine kleine Theorie des Vergessens» von José Eduardo Agualusa gelesen. Diese grossartige Parabel auf das verworrene Angola nach der Unabhängigkeit beschreibt die Einfälle einer Frau, die sich in einer Wohnung in Luanda einmauert und dort dreissig Jahre lang überlebt. Apropos: S. hat für unsere jüngere Enkelin D. zu ihrem neunten Geburtstag am 31. März eine rechteckige Sachertorte gebacken und den Guss grün eingefärbt wie ein Fussballfeld; drauf kamen neben den Linien die essbaren Flaggen von D.s Wunschteams: Frankreich und Angola. Mit D. und ihrer Schwester MJ. skypen wir nicht, wir telefonieren einfach. Das gibt ihnen Gelegenheit zum Schabernack. Mitten im Satz übergibt die eine den Hörer an die andere – und ich brauche sooo lange, bis ichs checke!

Im Haus leben Tugenden auf, von denen man einige in die Nachcoronazeit retten möchte. Der Tauschhandel blüht: Nachbarin H. kauft für Nachbar J. ein, dieser putzt ihr dafür hingebungsvoll die Schuhe; Nachbarin K. bügelt mit viel Charme. Meine Mission ist die Entsorgungstour, dadurch erleichtert, dass ich als Hof-Weinlieferant die Trinkgewohnheiten sowieso kenne.

Meine Tätigkeit verschafft mir den Vorwand für etwas ausgedehntere Liefertouren, etwa ins Toggenburg. Auf der Landeskarte entdeckte ich eine Lokalität namens Salomonstempel. So spazierte ich mit S. und H. über die Hügel bei Hemberg, bis unsere Schuhe vom Restschnee quatschten. Der Tempel erwies sich als profanes Ferienlagerhaus, ist aber wunderschön gelegen; ich hatte halb und halb eine Endzeitsekte erwartet. Bei M. gabs anschliessend einen prima Schlorzifladen.

Sonst übe ich mich in dieser Zeit immer in Selbstdisziplin – du willst jetzt noch keine Spargeln, warte mindestens bis Ende April. Doch als Nachbar R. angeradelt kam, den Rucksack voller Spargeln aus Rafz, schoss der Speichel ein, und ich bereitete eine Mayonnaise zu: 1 zimmerwarmes Eigelb, etwas Thomy-Senf, 1 halbe Limette, Leindotteröl, Salz und mein geliebter Madagaskarpfeffer, frisch gemörsert – sehr gelungen. Mir geht es fast verboten gut, trotzdem will ich diesen Zustand nicht. Lockdown tönt zwar griffiger als «Schliessrunter». Aber als Herr Bigler im Fernsehen von «Smart Restart» sprach, dachte ich: Schnauze!

Von der 95-jährigen WOZ-Autorin Ruth Weiss kommt eine berührende Botschaft aus Dänemark (www.youtube.com/watch?v=pxVgoFi9EhQ&feature=youtu.be). Dänisch auch mein Buchtipp: «Zu viel Glück auf einmal» von Jörn Riel. Die äusserst vergnüglichen Geschichten spielen in Nordostgrönland: pralles Leben in absoluter Abgeschiedenheit. Die Fänger müssen bis im Juni ausharren. Dann kommt die «Vesle Mari», das Versorgungsschiff.

Jürg Fischer handelt mit Wein und ringt mit Worten in Uster.