Kino-Film «Corpus Christi»: Falscher Priester, echte Gemeinschaft

Nr. 36 –

Ein jugendlicher Delinquent gibt sich als Priester aus und ist dabei heiliger als die Kirche selbst. Jan Komasas Drama «Corpus Christi» nimmt eine Kurzmeldung zum Anlass, auf faszinierende Weise vom Verhältnis zwischen Gesellschaft und Religion zu erzählen.

Priesterausbildung? Nein. Charisma? Jede Menge: Bartosz Bielenia als Daniel. Still: Xenix Film

Die Umstände, unter denen Daniel (Bartosz Bielenia) zum Priesteramt kommt, sind etwas schwammig. Der Zwanzigjährige kann zwar eine Priesterkutte vorweisen sowie ein grosses Talent, wenn es darum geht, eine Legitimation von oben zu behaupten – aber institutionell abgesegnet ist die Sache mit Sicherheit nicht. Daniel wurde eben aus der Jugendstrafanstalt entlassen und ist weder ausgebildeter Priester, noch scheint er mit den Aufgaben des Amtes besonders vertraut zu sein. Bei der Abnahme der Beichte googelt er kurz nach den richtigen Phrasen, um dann der beichtenden Mutter zu raten, sie solle ihrem Sohn, über dessen Zigarettenkonsum sie besorgt ist, einfach stärkere kaufen. Sodann solle sie, statt ihn mit Schlägen zu züchtigen, zur Absolution einen langen Spaziergang mit ihm unternehmen.

Abgesehen von seiner wenig spirituellen Biografie scheint Daniel fürs Priesterwesen geradezu berufen zu sein. Wenn er von seiner Kanzel aus immer mehr zu rhetorischer Ekstase aufläuft, horcht das ganze Dorf auf; die Kirche beginnt sich sogar wieder zu füllen.

Gestohlenes Gewand

Bei der Gemeinde, die sich an das Geleier des alkoholkranken, jetzt in Therapie befindlichen Dorfpredigers gewöhnt hatte, entfaltet die unverblümte Sprache des jungen Delinquenten durchaus ihre Wirkung. «Fake it till you make it» trifft auf «Tell it like it is» in gestohlenem katholischem Gewand – eine moderne, gewinnbringende Mischung.

Auch sonst zeigt sich in der polnischen Kleinstadt, die sich fest in den Händen eines korrupten Sägewerkbesitzers befindet, eine Mobmentalität, die jeder vorgeblichen Autorität hinterherläuft, wenn sie nur als solche auftritt. Das zeigt sich etwa darin, dass selbst Monate nach einem schlimmen Unfall niemand dem mutmasslich unschuldigen Todesfahrer und dessen Ehefrau verzeihen mag. Ersterem verweigert man das Begräbnis, Letztere wird gesellschaftlich derart geächtet und beschimpft, dass von gottesfürchtiger Gemeinschaft schon lange nicht mehr die Rede sein kann. Daniel, unbelastet von psychosozialem Ballast und katholischer Zurückhaltung, macht sich daran, Frieden und Vergebung zu stiften – bis ihn seine kriminelle Vergangenheit, die dezidiert über die Aneignung fremder Priesterkutten hinausgeht, etwas gar genremechanisch einholt.

Was die reine Handlung betrifft, holt «Corpus Christi» nicht unbedingt Originalitätspreise ab. Auch nicht den Oscar für den besten fremdsprachigen Film, den er «Parasite» überlassen musste. Dass die Handlung auf wahren Begebenheiten beruht – nach einem ähnlichen Fall stand die katholische Kirche in Polen vor dem Dilemma, die sakralen Akte eines falschen Priesters sanktionieren zu müssen –, ist in diesem Fall schon etwas interessanter als üblich. Dass es einem Film aber gelingen kann, «Journal d’un curé de campagne» des Meisterasketen Robert Bresson mit Elia Kazans «A Face in the Crowd» kurzzuschliessen, der vor sechzig Jahren den trumpschen Populismus vorwegnahm, ist alles andere als selbstverständlich. Und es führt zu einer Reihe von äusserst spannenden moralischen Fragen, die der junge Regisseur Jan Komasa dann aushandeln oder – noch spannender – offenlassen kann.

Spirituelle Erleuchtung

Sie kristallisieren sich in der Figur von Daniel, der allem Anschein nach ein Mörder ist und diese Tatsache sogar, wenn auch getarnt als Metapher, von seiner Kanzel herunter verkündet. Nachdem er als Messdiener im Jugendgefängnis eine spirituelle Erleuchtung erlebt hat, erkundigt er sich nach seinen Chancen, nach der Entlassung ins Priesterseminar eintreten zu können – und erfährt, dass die Gnade des Herrn so weit dann doch nicht reicht. Als er seine Entlassung mit Drogen, Tanzen und Sex feiert, scheint in seinen Augen aber bereits dieselbe Ekstase auf, die er kurz darauf der Kirchgemeinde empfehlen wird. Mystizismus gilt auch im 21. Jahrhundert noch als gotteslästerlich.

Was zählt mehr: die geordnete Ausbildung in einer Institution, der in Polen zwar immer noch die meisten Menschen angehören, die aber durch Korruptions- und andere Skandale schon lange nicht mehr den seriösesten Ruf geniesst – oder die offenkundige Berufung eines falschen Priesters, der das Beste ist, was dem konservativen Dorf und seinen verzweifelten EinwohnerInnen passieren konnte? Und was ist genau der Sinn einer Institution, die Vergebung predigt, aber selbst nicht vergeben kann, die von Zeichen spricht, aber keine erkennen will, und die sich für moralisch überlegen hält, sich gleichzeitig Politik und Wirtschaft gegenüber korrumpiert?

Indem Komasa all diese Widersprüche erst aufeinanderstapelt, um dann durch die Figur des falschen Priesters am Fundament zu rütteln, gelingt es ihm, die unschönen Seiten des Zusammenlebens in einer noch nicht ganz postreligiösen Gesellschaft in ein hier reichlich entsättigtes Licht zu rücken.

Corpus Christi. Regie: Jan Komasa. Polen 2019