«No Covid»: «Wir können es in weniger als drei Monaten schaffen»

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Schlimmer als ein harter Lockdown sei für die Leute der ständige Wechsel von Verschärfen und Lockern, sagen zwei Mitglieder der «No Covid»-Initiative. Bei den Massnahmen sehen sie das Denken in nationalen Grenzen grundsätzlich kritisch.

WOZ: Elvira Rosert, Matthias Schneider, Sie gehören zu einem interdisziplinären Team, das die «No Covid»-Initiative lanciert hat. Damit sollen wir aus dem Teufelskreis von Lockern und Verschärfen von Massnahmen herauskommen. Viele Länder sind wieder im Lockdown, doch die Infektionszahlen sinken nur zögerlich. Mit welchen zusätzlichen Massnahmen sollen wir auf Ihr Ziel von null Ansteckungen kommen?
Matthias Schneider: Im Prinzip wären die Massnahmen, wie wir sie letzten Frühling eingesetzt haben, völlig ausreichend. Nur müssten sie auch eingehalten werden. Die Mobilitätsdaten zeigen, dass die Leute nicht mehr so richtig mitmachen.

Elvira Rosert: Viel weniger Menschen als im ersten Lockdown arbeiten im Homeoffice. Wir hören von vielen Seiten, dass ein grosser Teil der Ansteckungen in der Arbeitswelt passiert. Die Ökonomen in unserer Gruppe schätzen, dass noch mindestens fünfzig Prozent mehr Leute ins Homeoffice geschickt werden könnten. Und wer das nicht kann, weil er zum Beispiel in einer Fabrik arbeitet, sollte Schutzausrüstung und Maske tragen. Sobald die Fallzahlen ein Niveau erreichen, bei dem das Contact Tracing wieder funktioniert, werden die Zahlen schneller sinken, bis die Inzidenz nur noch 10 Fälle pro 100 000 Einwohner pro 7 Tage beträgt. Ab da kann kontrolliert gelockert werden, bis man den Status einer grünen Zone ohne Restriktionen erreicht.

Sie nehmen Australien als Vorbild für Ihre «No Covid»-Strategie. Aber ist das überhaupt vergleichbar mit dem hochvernetzten Europa mit urbanen Zentren wie Zürich oder Paris, in denen die Bevölkerungsdichte rund zehn- respektive vierzigmal so hoch ist wie in Melbourne?
Schneider: Wir schauen nicht nur nach Australien, wir müssen von allen lernen, die es richtig gemacht haben: im asiatischen Raum, aber auch im Baltikum. Melbourne haben wir näher angeschaut, weil es mit vielen deutschen Städten vergleichbar ist. Und was in Melbourne funktionierte, war auch in Sidney erfolgreich, das dieselbe Bevölkerungsdichte wie Berlin hat. Natürlich ist nicht alles aus diesem Fallbeispiel übertragbar, aber vieles eben schon.

Der Lockdown in Melbourne war massiv: Die Leute durften ihr Haus kaum noch verlassen, und er dauerte fast drei Monate. Da sollen wir durch?
Rosert: Hoffentlich nicht, nein. Genau dagegen arbeiten wir mit unserem länderübergreifenden Vergleich. Wir wollen herausfinden, auf welche Massnahmen verzichtet werden kann. Ausgangssperren zum Beispiel könnten dazugehören.

Schneider: Was ist denn die Alternative? Machen wir zu früh auf, bevor wir auf einer Inzidenz von 10 sind, werden uns die Fälle sofort wieder um die Ohren fliegen und uns in den nächsten Lockdown treiben. Und dieser wird unter Umständen aufgrund der hochansteckenden neuen Virusvarianten noch härter sein müssen, um überhaupt etwas zu bewirken. Aber ich glaube, dass wir es in weniger als drei Monaten schaffen können, in die grüne Zone zu kommen. Denn seit dem australischen Lockdown vor einem halben Jahr sind die Testsysteme viel ausgeklügelter geworden, wir wissen um die Bedeutung von Masken für den Schutz vor Ansteckungen, und wir haben eine Impfung.

Die Menschen sind nach einem Jahr Corona erschöpft, psychische Probleme gerade unter Jugendlichen sind verbreitet. In Australien hat der Lockdown diese Probleme verschärft. Wie wollen Sie das auffangen?
Schneider: Gerade für Familien ist weniger der Lockdown belastend als dieses ständige Auf und Ab von Lockern und Verschärfen, das zeigen mehrere Studien.

Matthias Schneider, Physiker, TU Dortmund

Rosert: Die psychischen Probleme, die damit einhergehen, sind in unserem Team ein zentrales Thema und das eigentliche Motiv, weshalb wir der aktuellen Situation ein Ende setzen wollen. Ich war lange in der Sozialarbeit tätig; mir sind die Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen, die in schwierigen sozialen und familiären Verhältnissen aufwachsen, sehr bewusst. Hinzu kommt, dass sozioökonomisch schwache Familien viel häufiger von Corona betroffen sind, weil die Eltern oft einer Arbeit nachgehen, die sich nicht im Homeoffice erledigen lässt.

Und doch geben Sie sich in Ihrem Strategiepapier zuversichtlich, dass diese Kinder ein in mehreren Studien nachgewiesenes schulisches Defizit aufholen können.
Rosert: Wir müssen tatsächlich davon ausgehen, dass Kinder aus den unteren sozialen Schichten wegen der Schulschliessungen sehr stark benachteiligt worden sind. Das darf aber nicht als quasi natürliche, unveränderbare Situation akzeptiert werden. Und seien wir ehrlich: Viele dieser Bildungsnachteile bestanden schon vor der Pandemie. In Deutschland entscheidet die soziale Herkunft noch immer über den Bildungserfolg. Vielleicht können wir ja Corona zum Anlass nehmen, darüber nachzudenken, welche gesellschaftlichen Reformen wir angehen sollten?

Schneider: Hier können wir von Australien lernen, wo als erste Massnahme am Ende des Lockdowns ein Aufholprogramm für Schulkinder lanciert wurde: Lehramtsstudenten gaben Kindern in kleinen Gruppen Nachhilfeunterricht.

In Ihrem Papier ist immer wieder vom Bottom-up-Prinzip die Rede: Was bedeutet das?
Schneider: Es geht darum, grüne Zonen zu erhalten, sie wie ein Pflänzchen zu pflegen und zu schützen, damit sie wachsen und sich ausbreiten können. Je mehr grüne Zonen es gibt, desto freier können sich die Menschen wieder bewegen. Deshalb ergibt es Sinn, erst mal lokal zu denken, weil man dann früher öffnen kann.

Rosert: Auch das epidemiologische Geschehen konzentriert sich ja lokal und kann dort besser kontrolliert werden – die lokalen Behörden sind stärker in der Verantwortung, während sie gleichzeitig die Situation am besten einschätzen können. Hinzu kommt, dass auch achtzig Prozent der Mobilität im lokalen Bereich stattfindet. Wenn man also die Mobilität räumlich beschränken muss, so ist dies lokal am wenigsten einschneidend. Umgekehrt sind die Menschen, die sich vorwiegend in diesem Bereich bewegen, auch am meisten daran interessiert, dass genau hier möglichst rasch gelockert werden kann.

Was bedeutet das für die Mobilität über Grenzen hinweg?
Schneider: Der Pendel- und Transitverkehr von ausserhalb einer grünen Zone muss sich an einer Reihe von Guidelines orientieren. Wer pendelt, braucht eine Fahrerlaubnis, muss eine FFP2-Maske tragen, und die Firma, bei der er arbeitet, muss spezielle Testsysteme haben. Die Kontaktmöglichkeiten von Personen aus der roten Zone mit Personen innerhalb der grünen Zone sollen minimal bleiben.

Rosert: Wir sehen das Denken in nationalen Grenzen und damit verbundene Grenzschliessungen grundsätzlich kritisch. Denn die Idee der grünen Zonen und einer Mobilitätsbeschränkung an ihren Rändern kommt der tatsächlichen europäischen Lebensrealität viel näher: Rund ein Drittel der Bevölkerung Europas lebt in Grenzregionen, ihr lokales Leben spielt sich auf beiden Seiten der Grenze ab, sei es aus beruflichen oder privaten Gründen. Wir müssen also viel stärker auf regionale, grenzüberschreitende Kooperationen bauen und diese auch einfordern.

Ist Überwachung der Preis, den wir für «No Covid» bezahlen?
Rosert: Grundsätzlich bedeutet überwachen vor allem, sehr viel zu testen. Technologisch betrachtet könnten auch – immer basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit – Armbanduhren eingesetzt werden, die ähnlich wie Fitnesstracker darüber informieren, in welcher Zone man sich gerade bewegt und welche Regeln darin gelten. Und auch die Corona-App könnte so weiterentwickelt werden, dass sie mehr Rückmeldungen zum individuellen Verhalten gibt.

Elvira Rosert, Politologin, Uni Hamburg

Schneider: Die Idee ist aber eigentlich umgekehrt: Wir setzen in den grünen Zonen auf Abwassertests und Ähnliches, und solange ein solcher nicht ausschlägt, muss sich niemand einem Test unterziehen. Wir wollen ja das Virus beobachten, nicht die Menschen.