Chinas Weg zur Wirtschaftsmacht: «Evergrande ist nicht Chinas Lehman-Moment»

Nr. 50 –

Isabella Weber hat ein international viel diskutiertes Buch über Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen der achtziger Jahre geschrieben. Chinas rasanter wirtschaftlicher Aufstieg, die übermächtigen Techkonzerne und die drohende Immobilienblase seien die direkte Folge der damaligen Reformen, sagt die Ökonomin im Gespräch.

Der zweitgrösste Immobilienkonzern Chinas ist mit rund 300 Milliarden US-Dollar verschuldet: Evergrande-Wohnkomplex in Huai’an, Ostchina. Foto: Zhao Qirui, Getty

WOZ: Frau Weber, die Krise des chinesischen Immobiliengiganten Evergrande spitzt sich weiter zu. Wie ist es möglich, dass das kommunistische China vor einem ähnlichen Immobiliencrash steht wie die kapitalistischen USA 2008?
Isabella Weber: Um das zu verstehen, muss man auf die tiefgreifenden Reformen blicken, die China in den vergangenen vierzig Jahren umgesetzt hat. Sie haben das sozialistische Wirtschaftssystem grundlegend verändert. Der Staat spielt bis heute eine viel wichtigere wirtschaftliche Rolle als in Europa oder den USA. Er greift viel stärker ein, um Märkte zu stabilisieren. Paradoxerweise ist er aber so in der Lage, in der Wirtschaft für eine weitreichende Vermarktlichung zu sorgen.

So wie beim boomenden Immobilienmarkt, der Lokomotive des chinesischen Wirtschaftswunders?
Ja. Kein Land hat sich jemals so schnell industrialisiert wie China in den letzten zwanzig Jahren, was zu einer massiven Migration vom Land in die Städte geführt hat. Der Bedarf an neuem Wohnraum ist geradezu explodiert. Das ist ein Grund, warum Immobilien für Chinas Wirtschaftsmodell so wichtig sind. Der zweite: Chinas Boden ist vorwiegend in der Hand der Lokalregierungen. Sie haben das Geschäft mit angetrieben, da die Verpachtung dieses Landes ihre Haupteinnahmequelle ist. Mit der Zeit entwickelte sich eine spekulative Dynamik, die auf den ersten Blick eine gewisse Ähnlichkeit mit der Blase in den USA vor der Finanzkrise von 2008 aufweist. Evergrande, das seinen Gläubigern die Zinsen nicht mehr zahlen kann, erinnert an die US-Investmentbank Lehman Brothers, die die Krise damals ins Rollen brachte.

Sie sagten jedoch, dass anders als im Westen der chinesische Staat schneller eingreift, um die Wirtschaft zu stabilisieren …
Genau hier liegt der zentrale Unterschied zu Lehman Brothers: Die Krise von Evergrande wurde von Präsident Xi Jinpings Regierung herbeigeführt, um der Immobilienspekulation Einhalt zu gebieten. Die Regierung hat den Immobilienkonzernen neue Regeln wie etwa höhere Eigenkapitalpolster auferlegt, die die Krise von Evergrande ausgelöst haben. Evergrande ist nicht mehr in der Lange, fällige Zinsen mit der Aufnahme von noch mehr Schulden zu bezahlen. Anders als die USA schaute China nicht einfach zu, bis sich die Immobilienblase in einer Finanzkrise entlädt. Der Staat griff vorsorglich ein, um der Blase die Luft rauszunehmen. Anders als oft kommentiert wird, erleben wir nicht Chinas «Lehman-Moment».

Die Regierung statuiert an Evergrande ein Exempel …
Sie signalisiert auf dramatische Art und Weise, dass das spekulative Geschäftsmodell im Immobiliensektor nicht mehr toleriert wird – und andere Unternehmen nicht Evergrandes Beispiel folgen sollen. Weil sie sonst ebenfalls auf einmal am Abgrund stehen könnten. Der Staat versucht gleichzeitig zu verhindern, dass Evergrande der übrigen Wirtschaft schadet. Er ergreift Massnahmen, die dem Dominoeffekt entgegenwirken.

Und auf diese Weise greift die Regierung in der gesamten Wirtschaft ein?
In jene Märkte, die für die Gesamtwirtschaft von zentraler Bedeutung sind: etwa in das Finanz- und Bankgeschäft, in den Stahl- oder den Kohlemarkt oder in den Getreide- oder den Schweinemarkt – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Der Staat tut dies unter anderem, indem er als Akteur am Markt teilnimmt: Als die Schweinegrippe 2019 einen grossen Teil der Schweine ausrottete, brachte der Staat etwa eigene Fleischreserven auf den Markt. So korrigierte er den Preis nach unten.

Das erinnert an westliche Zentralbanken, die ein Inflationsziel festlegen und ihre Politik dann an diesem Ziel ausrichten …
Ja, nur dass China dieses Modell für eine ganze Reihe von Gütern nutzt.

Ist Chinas heutige Wirtschaft das direkte Ergebnis von Deng Xiaopings Reformen in den achtziger Jahren, die Sie in Ihrem Buch «How China Escaped Shock Therapy» anhand von Zeitzeug:innen aufarbeiten?
Es gibt eine direkte Linie von den damaligen Reformen zur Gegenwart, auch wenn sie nicht gerade verläuft. Das alles Entscheidende war, dass sich China damals gegen die Schocktherapie entschied. Es entschied sich gegen die Idee, die Institutionen der Planwirtschaft über Nacht aus der Welt zu schaffen, um Platz für den Markt zu machen – so wie es in vielen ehemals kommunistischen Ländern Osteuropas wie in Russland geschah. Stattdessen wählte China das oben dargelegte Modell: Die Planungsinstitutionen haben Märkte erschaffen, an denen sie gleichzeitig teilnehmen, um die Preise zu stabilisieren. Dabei besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Macht des Marktes und des Staates, das immer wieder neu verhandelt wird. Aber im Grossen und Ganzen ist das die Wirtschaftslogik, die in Xi Jinpings China bis heute weiter besteht.

Warum entbrannte in China Ende der siebziger Jahre überhaupt eine Debatte darüber, ob das Land eine Schocktherapie benötigt?
Nach der Revolution von 1949 war China eines der ärmsten Länder der Welt. Zwar gab es unter Mao Zedong einige Fortschritte: Die Infrastruktur und die Schwerindustrie wurden aufgebaut, zudem gab es Verbesserungen in der öffentlichen Gesundheit oder Bildung. Ab 1966 versuchte Mao mit der Kulturrevolution allerdings vor allem, die Gesellschaft zu revolutionieren, wobei er die Wirtschaftsentwicklung lediglich als Nebenprodukt betrachtete. Das Experiment endete in Chaos und bürgerkriegsähnlichen Zuständen. 1980 lag Chinas Bruttosozialprodukt pro Kopf nach wie vor tiefer als das von Haiti oder dem Sudan.

Die Schocktherapie sollte die Wirtschaft zum Wachsen bringen …
Ja, nach Maos Tod 1976 wurde der niedrige materielle Lebensstandard als das grosse ungelöste Problem betrachtet. Zuerst versuchte es das Land mit einem sowjetisch inspirierten Zehnjahresplan, der das landwirtschaftlich geprägte China in eine Industrienation verwandeln sollte. Die Idee war, mit Erdölexporten den Import neuer Technologien zu finanzieren. Der Plan scheiterte jedoch, weil weniger Öl im Boden gefunden wurde als erhofft. So stellte sich kurz darauf erneut die Frage nach einem alternativen Wirtschaftssystem. Viele Ökonomen und Reformer argumentierten für mehr Markt. Einer der Reformansätze, der im Laufe der achtziger Jahre an Einfluss gewann, forderte vor allem Preisliberalisierungen, so sollte über Nacht die Marktwirtschaft eingeführt werden. Dahinter steckte eine ähnliche Logik wie die Schocktherapie, die von Dialogen mit osteuropäischen Ökonomen wie dem Tschechen Ota Sik inspiriert war.

Ota Sik lehrte damals an der Uni St. Gallen. Wer trat sonst noch für eine Schocktherapie ein?
Der Ruf kam auch von harten Neoliberalen wie Milton Friedman, dessen Ideen damals auch in Europa und den USA den Durchbruch schafften. Er bereiste zu jener Zeit auch China, und seine Bücher wurden ins Chinesische übersetzt. Die Immigranten aus Osteuropa an den westlichen Universitäten spielten jedoch eine besondere Rolle, nebst Sik etwa auch der kürzlich verstorbene Ungar Janos Kornai. Sie waren vertraut mit der westlichen neoklassischen Wirtschaftslehre, gleichzeitig wussten sie, wie sozialistische Wirtschaftssysteme funktionieren. Sie wurden von der Weltbank in Washington, die China liberalisieren wollte, als die idealen Botschafter betrachtet.

Interessant ist, dass sie nicht in erster Linie die Staatsbetriebe privatisieren wollten. Sie wollten vor allem sämtliche Preise, die bisher vom Staat festgelegt wurden, dem Spiel von Angebot und Nachfrage überlassen.
Das war das Kernanliegen der Schocktherapie – die zu jener Zeit in China allerdings nicht so genannt wurde. Privatisierungen sind ein langwieriges Unterfangen – es gab in China zu jener Zeit auch keine privaten Investor:innen, die die Betriebe hätten aufkaufen können. Zudem bringen private Firmen ohnehin keinen Wandel, solange es keine Märkte gibt. Darum wollte man durch einen Big Bang auf die Schaffung von Märkten setzen.

Warum genau legte im damaligen China der Staat die Preise fest?
Die Volkskommunen, die die Landwirtschaft betrieben, wurden gezwungen, ihr Getreide den industrialisierten Städten zu relativ niedrigen Preisen zu verkaufen. Umgekehrt waren die Preise, die sie für Industriegüter bezahlen mussten, sehr hoch. So wurden dem Land Ressourcen entzogen, um damit die städtische Industrie aufzubauen. Die Preisfestsetzung diente also der Industriepolitik. Gleichzeitig sollte sie auch sozialen Ausgleich herstellen: Die Preise für wichtige Waren wie Reis, Bratfett oder Kohl wurden tief gehalten. Umgekehrt waren damalige Luxusgüter wie Nähmaschinen, Fahrräder oder Armbanduhren teuer. Die hohen Einnahmen wurden wiederum in die Schwerindustrie investiert.

Sie haben bereits erwähnt, dass Deng Xiaoping, der ab 1979 das Land regierte, nicht den Anhänger:innen der Schocktherapie folgte. Sie wurden von pragmatischeren Köpfen ausgebremst. Was waren das für Leute?
Junge Universitätsökonom:innen, die als Jugendliche während der Kulturrevolution aufs Land geschickt worden waren, um gemäss maoistischer Ideologie von den Bauern zu lernen. Ihnen schlossen sich auch ältere Parteikader an, die bereits die Landwirtschaft reformiert hatten. Diese Landwirtschaftsreform wurde zur Blaupause für Chinas Marktwende: Den privaten Haushalten in den Volkskommunen wurde erlaubt, über die festgelegte Quote hinaus Getreide zu produzieren, das sie auf dem Markt verkaufen konnten. Unter Deng Xiaoping wurde dieses zweigleisige Preissystem auf die städtische Industrie übertragen: Neu produzierten Staatsbetriebe sowohl für den Plan als auch für den Markt. So blieb die Planwirtschaft bestehen, während gleichzeitig Märkte für immer mehr Güter entstanden. Die jungen Ökonom:innen warnten, dass die Schocktherapie Unruhen auslösen würde.

Warum?
Die Preise für billig gehaltene Industriegüter wie Stahl würden nach einer Liberalisierung in die Höhe schnellen, argumentierten sie, was etwa Fahrräder und andere Konsumgüter verteuern würde. Dies würde die arbeitende Bevölkerung veranlassen, höhere Löhne zu fordern, was zu Hyperinflation und sozialer Instabilität führe. So wie es in Russland später tatsächlich geschah.

Zurück zur Gegenwart: Ist die heutige aufstrebende Wirtschaftsmacht China das Ergebnis von Deng Xiaopings Reformen der achtziger Jahre?
Ja, auch wenn es seither weitere grundlegende Reformen gab. Das zweigleisige Preissystem, in dem Firmen für den Plan wie auch für den Markt produzieren, hat an Bedeutung verloren. Der Staat sorgt immer weniger für die Planung und dafür – wie zu Beginn des Gesprächs dargelegt – immer mehr für die Stabilisierung der Preise, indem er selber im Markt mitmacht. In den neunziger Jahren wurden zudem viele staatliche Betriebe privatisiert. Allerdings blieben die wichtigen Unternehmen in den strategischen Schlüsselindustrien etwa für Energie oder Stahl unter staatlicher Kontrolle. Privatisiert wurden die peripheren, weniger wichtigen Firmen …

… es herrscht also ein Markt, obwohl viele Betriebe nach wie vor in Staatsbesitz sind. Das klingt für heutige westliche Ohren wie ein Widerspruch.
Ja, doch Märkte können tatsächlich auch unter starker Beteiligung des Staates existieren. In China operiert eine Vielzahl von staatlichen Unternehmen neben privaten Firmen auf weitgehend freien Märkten.

Sie sagen, der Staat versuche, die Vormacht in strategischen Schlüsselindustrien zu halten. Ist das der Grund, warum Staatschef Xi Jinping in den letzten Monaten Techgiganten wie Alibaba und Tencent mit strengen Regulierungen an die Leine genommen hat?
Ja, vor einigen Jahren waren diese grossen Techkonzerne und Onlineplattformen noch keine Schlüsselindustrien. Nun, da sie zu solchen geworden sind und einige wie Alibaba weite Teile des Einzelhandels dominieren, greift Xi Jinping durch, um das Machtverhältnis zugunsten des Staates zu verschieben. Und das ziemlich vehement. Der Staat stellt sich gegen die Übermacht privater Konzerne, um den eigenen Führungsanspruch zu markieren.

Neben übermächtigen privaten Monopolen oder der Immobilienblase hat Chinas wirtschaftlicher Aufstieg eine weitere Schattenseite: einen enormen CO2-Ausstoss. Wie stark wird China eingreifen, um den Klimawandel aufzuhalten?
China hat im Oktober entschieden, dass der CO2-Ausstoss ab 2030 fallen soll. Bis dahin soll zudem der Anteil fossiler Energie auf 25 Prozent sinken. In der Regel hält China solche Planungsziele ein. Erneuerbare Energien sind China auch wichtig, um wirtschaftlich souverän zu sein. Denn anders als die USA muss China einen Grossteil der fossilen Energien importieren.

«Chinas Regierung signalisiert, dass andere Unternehmen nicht Evergrandes Beispiel folgen sollen»: Isabella Weber.

Welchen Einfluss wird China in den nächsten Jahren auf den Westen haben?
Chinas Aufstieg hat bereits zu einem Umdenken geführt: Mit Marco Rubio forderte 2019 in den USA ausgerechnet ein Republikaner eine aktive Industriepolitik. Die Pandemie verstärkt diesen Trend. Auch US-Präsident Joe Bidens milliardenschwerer Ausbau der Infrastruktur in den USA ist zweifellos durch China inspiriert. Gleichzeitig versucht Biden damit, die Position der USA im Wettbewerb mit China zu stärken. Chinas Wirtschaftsmodell hat im Westen eine Debatte über das Verhältnis von Staat und Markt entfacht.

Die China-Expertin

Isabella Weber (34) ist Autorin des dieses Jahr erschienenen Buchs «How China Escaped Shock Therapy» (Wie China der Schocktherapie entkam), das international für grosses Aufsehen sorgte. Darin schildert sie, warum China sich in den achtziger Jahren unter Deng Xiaoping gegen radikale Preisliberalisierungen entschied, wie sie später nach der Auflösung der Sowjetunion Russland ins Chaos stürzten.

Die deutsche Ökonomin ist derzeit Assistenzprofessorin am Wirtschaftsinstitut der University of Massachusetts, wo sie auch zu globalem Handel und zur Geschichte wirtschaftlicher Ideen forscht.