Sachbuch: Kriegserklärung an den geistigen Schlendrian

Nr. 6 –

Ohne diese Gelehrtenrunde wäre die zeitgenössische Logik nicht denkbar: Der britische Philosoph David Edmonds erzählt die Geschichte des «Wiener Kreises» neu – sehr vergnüglich und angenehm unakademisch.

Der «Wiener Kreis» gehört zu den wichtigsten und zugleich am wenigsten bekannten Erscheinungen in der Geschichte der modernen Philosophie und Wissenschaft. Er ist in Verruf und Vergessenheit geraten, weil seine Arbeit kurzerhand mit Positivismus oder Empirismus assoziiert worden ist.

Das ist bedauerlich, denn dem Wiener Kreis verdanken wir viel: Ohne diese Versammlung gelehrter und mitunter genialer Köpfe sind die zeitgenössische Logik und Wissenschaftstheorie nicht denkbar. Eine jahrzehntelange Kooperation von jungen, brillanten Physikern, Philosophinnen, Mathematikern und Sozialwissenschaftlern ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist es, dass aus einer Wiener Diskussionsrunde eine weltweite Bewegung wurde, die bis heute nachwirkt.

David Edmonds, der in Oxford Philosophie lehrt, hat die Geschichte dieses Gelehrtenzirkels in einem Buch wiedergegeben – glänzend geschrieben und vergnüglich zu lesen. Der Autor hat auch als Journalist Erfahrung, das zeigt schon der leicht reisserische Titel des Buchs: «Die Ermordung des Professor Schlick». Tatsächlich wurde Professor Moritz Schlick, einer der führenden Köpfe des Wiener Kreises, am 22. Juni 1936 von einem seiner ehemaligen Studenten niedergeschossen. Im Prozess versuchte der Mörder, seine Tat als Widerstand gegen die «jüdische Wissenschaft» hinzustellen, was die antisemitische Wiener Presse begierig aufgriff.

Anfänge im Kaffeehaus

Den Wiener Kreis gab es damals schon lange: erst als informelle Diskussionsrunde in Wiener Kaffeehäusern, dann als Kolloquium an der Wiener Universität unter Führung von Moritz Schlick, ehe daraus 1928 mit der Gründung des Vereins Ernst Mach eine formelle Institution wurde. Im Sommer 1929 trat diese mit einer programmatischen Schrift öffentlich hervor: «Wissenschaftliche Weltauffassung – Der Wiener Kreis» war ein regelrechtes Manifest und eine Kriegserklärung an den bisherigen Schlendrian.

Die traditionelle Philosophie sei durch die neueren Entwicklungen in den Naturwissenschaften (Relativitätstheorie, Quantenphysik) vollständig obsolet geworden; Empirismus und Positivismus müssten neu begründet und auf der Basis der neuen Logik und Physik zu einer streng wissenschaftlichen Weltanschauung ausgebaut werden. Damit werde die traditionelle Metaphysik in all ihren Spielarten beseitigt. Fortan könne die Grenze zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft, zwischen sinnvollen Problemen und Scheinproblemen klar gezogen werden. Echte Probleme seien demnach empirisch, der metaphysische Schutt der vorwissenschaftlichen Weltanschauungen entbehrlich.

Noch skandalöser: Die Mitglieder des Wiener Kreises erklärten offen ihre Sympathie mit den Versuchen zur rationalen Neugestaltung der ökonomischen und der sozialen Verhältnisse, nahmen also Partei für die Reformpolitik der Sozialist:innen im «Roten Wien» und darüber hinaus.

Neu und unerhört

Der Kreis war gut organisiert und vernetzt, nicht nur in Europa. Neben dem Verein Ernst Mach hatte der Kreis ab 1930 eine eigene Zeitschrift, «Erkenntnis», in der seine Mitglieder publizierten. Unter dem Titel «Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung» gab er auch eine eigene Buchreihe heraus, ab September 1929 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs organisierte er jährlich Kongresse für die «Einheit der Wissenschaft», auf denen einige Hundert Philosophinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt zusammenkamen. Das lohnte sich, denn dort konnte man Neues und Unerhörtes erfahren – wie 1930, als Kurt Gödel seinen Unvollständigkeitssatz vorstellte.

Edmonds erzählt die Geschichte dieses Kreises von bemerkenswerten Gelehrten auf höchst amüsante Weise. Ehrfurcht vor den Genies hat er nicht, sein Stil ist angenehm unakademisch. Immer wieder schildert er die eigentlich auch für Leute vom Fach nicht ganz einfachen Positionen des Wiener Kreises gut verständlich. Auch viele fesselnde Anekdoten aus dem Leben dieser Gelehrten zieren seine Darstellung. Zudem konnte Edmonds die Sitzungsprotokolle des Wiener Kreises auswerten, die zum Glück zahlreich erhalten sind. So führt er in seinem Buch vor, wie es bei diesen Sitzungen hoch herging. Wie Moritz Schlick und der junge Karl Popper aneinandergerieten und wie Otto Neurath die Anwesenden mit Metaphysikvorwürfen nervte.

Den führenden Figuren des Wiener Kreises widmet der Autor in seinem locker der historischen Chronologie folgenden Buch ausführliche Porträts. «Neurath im Roten Wien» ist das Kapitel überschrieben, in dem er den ideenreichsten und vielseitigsten Kopf des Kreises vorstellt. Otto Neurath ist ein Mann, den eigentlich jedes Kind kennen sollte, weil er die Welt mit seinen Piktogrammen nachhaltig verändert hat – jenen stilisierten Bildsymbolen, die uns heute auf Schritt und Tritt überall begegnen. Er hat die Bildstatistik entwickelt, die uns heute in Infografiken ganz alltäglich scheint, aber damals als Beitrag zur Revolutionierung des Bildungswesens gedacht war.

Zudem war Neurath Initiator zahlreicher Projekte des Wiener Kreises und die Verbindung zu anderen Zirkeln und Bewegungen in Wien. Durch ihn kamen zahlreiche Mitglieder des Kreises dazu, sich regelmässig als Lehrer:innen an den Volkshochschulen in Wien zu engagieren. Trotz aller Brillanz war vielen von ihnen die Universität verschlossen – als Jüd:innen oder Sozialist:innen (oder beides) blieben sie aussen vor oder mussten mit untergeordneten Bibliotheksstellen vorliebnehmen.

Flucht vor dem Faschismus

Mit dem Aufstieg des klerikalen Austrofaschismus und der Machtergreifung der Nazis begann die dunkelste Zeit jener «dunklen Jahre der Philosophie», auf die Edmonds im Untertitel des Buchs anspielt. In jenen Jahren verloren viele Mitglieder des Wiener Kreises ihre Existenz. 1935 konnte Physiknobelpreisträger Philipp Lenard die Relativitätstheorie öffentlich mit der Begründung abweisen, es handle sich um «jüdische Wissenschaft». In Nazideutschland wurde der Wiener Kreis als Vereinigung «fremdrassiger» Menschen bezeichnet, deren Logik sich von der «arischen Logik» grundlegend unterscheide. Nach dem kurzen österreichischen Bürgerkrieg im Februar 1934 geriet auch der Verein Ernst Mach ins Visier der Staatsmacht. Moritz Schlick, immerhin Ordinarius der Wiener Universität, bemühte sich vergeblich, den Verein als unpolitischen Gelehrtenklub darzustellen: Verboten wurde er trotzdem.

Die Mitglieder des Kreises, denen die Flucht vor den Nazis gelang, setzten ihre Arbeit im Exil fort: in Oxford, Harvard, Chicago oder Los Angeles. Ludwig Wittgenstein, der ihre Arbeit stark beeinflusst hatte und dessen Werk viele Debatten geprägt hatte, kehrte nach Cambridge zurück, 1939 wurde er britischer Staatsbürger. Die meisten der in die USA geflohenen Mitglieder des Kreises wurden dort gut aufgenommen, lehrten an Universitäten und prägten die angelsächsische Wissenschaftstheorie und die analytische Philosophie für Jahrzehnte. Streng genommen sogar bis heute.

David Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie. Verlag C. H. Beck. München 2021. 352 Seiten. 42 Franken