Eine Ukrainerin in der Schweiz: «Ich habe zu zittern begonnen»

Nr. 10 –

Wie Irina Bilyavska Camenzind versucht, ihren Landsleuten zu helfen.

Irina Bilyavska Camenzind

Wegen meiner kranken Mutter, die dann gestorben ist, war ich im Februar drei Wochen in meiner Heimatstadt Uschhorod in der Westukraine. Die Menschen um mich herum sprachen jeden Tag über eine mögliche russische Invasion.

Meine Freunde hatten schon einen Stromgenerator und einen Gaskocher besorgt. Für ihr Schlafzimmer hatten sie ein Zelt gekauft, um sich nachts aufwärmen zu können. Sie haben sich darüber beraten, wie sie ihre Kinder in Sicherheit bringen könnten. Trotz allem glaubten sie aber nicht richtig an einen Krieg.

Als die ersten Nachrichten von den Bombardierungen kamen, sass ich im Zug zurück nach Hause in die Schweiz. Ich habe zu zittern begonnen und hatte ein schlechtes Gewissen. Hier war es so friedlich, der Himmel war blau, und ich wollte unbedingt etwas tun. Jetzt koordiniere ich hier in Einsiedeln die Ankunft der Flüchtlinge aus der Ukraine, und es gibt zahlreiche Angebote von Schweizer:innen, die den Menschen helfen wollen.

Vor sieben Jahren haben wir in Einsiedeln den Mittel-Osteuropäischen Kulturverein Dialog gegründet. Wir haben rund sechzig Mitglieder, etwa aus Weissrussland, der Ukraine, Russland und Kasachstan. Wir sind ein unpolitischer Verein und wollen mit Veranstaltungen Schweizer:innen unsere Kultur näherbringen. Doch jetzt ist es uns nicht mehr möglich, neutral zu sein. In der Ukraine geschieht eine menschliche Tragödie, wir werden nicht mehr schweigen.

Wir haben eine befreundete Familie aufgenommen, die wie wir ein Kind mit Downsyndrom hat. Für sie haben wir unser Schlafzimmer freigeräumt. Der Ehemann durfte nur ausreisen, weil sie ein Kind mit einer Beeinträchtigung haben. Die Familie will noch kein Asylgesuch stellen, sie wollen einfach Schutz und sich ausruhen. Vielleicht schauen wir wegen des Status S, damit sie eine Krankenversicherung bekommen.

Mein Vater und mein Bruder sind noch in Uschhorod, wo es bisher noch friedlich ist, aber jeden Tag Flüchtlinge ankommen. Mein Bruder hat nur einen russischen Pass und hat immer an die Propaganda des Kreml geglaubt. Momentan kann er nicht zurück nach Moskau, er sitzt in der Ukraine fest. Jetzt muss er miterleben, dass Geburtshäuser bombardiert werden, dass die Zivilbevölkerung leidet. Einerseits tut es mir leid, dass er nicht zu seiner Familie kann. Doch jetzt sieht er die Realität mit eigenen Augen. Die Familien sind zerrissen.

Schon 2014 war uns Ukrainer:innen klar, dass Wladimir Putin einen Plan hat und Stück für Stück noch andere Stücke der Ukraine abschneiden wird. Europa war zu schwach und hat zu lange zugeschaut. Ich glaube nicht, dass die neusten Verhandlungen sehr erfolgreich sein werden, dazu bräuchte es meiner Meinung ein Format mit grosser internationaler Beteiligung. Ich hoffe auf jeden Fall weiter, dass der Krieg nicht so lange dauert. Das hängt auch von uns Europäerinnen und Europäern ab.

Irina Bilyavska Camenzind (51) lebt in Einsiedeln. Sie ist Linguistin und Sozialwissenschaftlerin.