Max-Frisch-Förderpreis: Sie gräbt subversive Kanäle

Nr. 25 –

In den Texten von Enis Maci geht es nicht um die vollständige Aufschlüsselung der Welt, sondern um das Freilegen verschütteter Verbindungen, schreibt die Autorin Dorothee Elmiger.

Enis Maci
Jeder Absatz verlockt zum Einstieg in ihre Texte: Enis Maci. Foto: Max Zerrahn

Es haben sich mir, als ich in den vergangenen Wochen alle möglichen Texte von Enis Maci noch einmal gelesen habe, immer neue Anfänge gezeigt, immer neue Einstiege, tausend Öffnungen, durch die ich sofort gehen, Abzweigungen, die ich, ohne mit der Wimper zu zucken, nehmen wollte. Über allen Absätzen blinkten Neonschilder: Offen. Ständig stiess ich auf Stellen, mit denen ich anfangen wollte, von denen ich dachte, es liesse sich unbedingt etwas anfangen mit ihnen, und ich markierte also jede von ihnen als Ausgangspunkt, Stellen, die sich wie automatische Schiebetüren auftun und den Weg freigeben würden in das weite Feld oder Netz hinein, das Enis Macis Texte aufspannen.

Mit der Wimperntusche beginnen

Ich wollte mit diesem Satz aus dem «Eiscafé Europa» beginnen: «Das Erzeugen einer brutal guten Einfachheit gelingt nicht, ohne brutal zu sein gegen das Gute.» Ich wollte in den «Crystal-Dörfern Frankens» beginnen, mit der Wimperntusche der Postergirls der Identitären Bewegung, mit dem Widerstand der Nonne oder der albanischen Tante, ich wollte auf der Treppe der Walhalla anfangen oder in der «Miracle Lounge», in der im Text «Wunder» die mit 23 Jahren auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg begrabene Sexarbeiterin und Pornodarstellerin Cora Wosnitza und die auf der Flucht aus Kuwait in Bangkok festgehaltene 18-jährige Rahaf Mohammed irgendwie zusammentreffen, mit diesem für das Schreiben von Enis Maci geradezu beispielhaften Ort wollte ich beginnen, wo die Autorin im gedämpften Licht aus den von den Heiligen und ihrem Wunderwirken handelnden Mirakelbüchern zitiert und zugleich die Innenausstattung der für das Leben im Kapitalismus des 21. Jahrhunderts so prima eingerichteten Lounge eigenhändig auseinanderbaut, um dann die Einzelteile nach ihrem Potenzial zu sortieren.

Stattdessen also die schlichte Beobachtung, dass jeder Absatz – wenn eine denn will – einen Eingang in den Text darstellt, eine Beobachtung, die die Struktur – oder besser: die Bewegung – dieser Essays und Stücke betrifft, und es ist – die These gleich vorweg – diese Bewegung, die das Schreiben Enis Macis auf so seltsame wie schöne Weise richtig gut macht. Diesem Schreiben geht es weniger um eine vollständige Aufschlüsselung der Welt oder unserer Gegenwart – denn mit der Aufschlüsselung, mit der Enthüllung verschwindet auch das Geheimnis: «Wenn ich kein Geheimnis mehr habe, wenigstens eines, das ich perspektivisch irgendwann einmal mit dir teilen könnte, gleichsam ein Ass im Ärmel, dann kann ich gehen», schreibt Maci im Essay «Über Geheimnisse (Plädoyer)» – als um neue Routen, um aufschlussreiche Verlinkungen, um das Freilegen verschütteter, vergessener, bestrittener Verbindungen. Es geht ihm darum, zu zeigen, wie manchmal die «eihautzarte Trennwand zwischen hier und dort zerbirst», wie es im Essay «Inseln» heisst, wo sie in dem Moment zerbirst, als der als Kind aus Ghana nach Deutschland gekommene und dort von weissen Deutschen adoptierte Sternekoch Nelson Müller für seine TV-Sendung nach Ghana reist und sich dort in einer ebenfalls von einem weissen Deutschen geführten Fabrik von einem ghanaischen Arbeiter zeigen lässt, wie eine Kokosnuss mit der Machete zu bearbeiten ist.

Die Sache mit dem Theremin

Der Text als Route kennt Schlaufen, Schlenker, klar, aber im Grunde folgt er stets einer Richtung: vorwärts. Eins folgt darin aufs andere, was nicht bedeutet, dass im simplen, kausalen Sinne gefolgert wird: Auf so etwas fällt Maci nicht herein. An die in der Fabrik zerborstene Trennwand zwischen hier und dort schliesst im nächsten Absatz die Frage an, ob es wohl möglich sei, unter einer Insel hindurchzutauchen, ein Absatz, der mit der Feststellung schliesst: «Die Erdkruste schwimmt auf dem Erdmantel, ihre niedrige Dichte auf seiner höheren, und wir im Ozean schwimmen auf Schwimmendem.» Und das passt, denn wenn ich mir die Autorin Maci vorstelle, dann steht sie eigentlich immer mit einer kleinen Schaufel am Ufer irgendeines Flusses und gräbt relativ subversive Kanäle, abzweigende Arme, die einen Teil des Wassers umlenken und sich irgendwann wieder mit dritten verbinden oder kleine Deltas ausbilden. Sie kratzt aus Interesse an der Erdkruste, sie schaufelt schnell, hat keine Angst, sich die Finger schmutzig zu machen. Oder sie surft im Internet. Oder sie liest in einer Enzyklopädie, was in ihrem Fall, dies meine Unterstellung, ungefähr dasselbe ist.

Dorothee Elmiger, Autorin des Textes
Dorothee Elmiger Foto: Florian Bachmann

Einer der Essays in «Eiscafé Europa», der eine ganze Reihe poetologischer Fragen aufwirft, setzt mit einem Gespräch an der Wiener Akademie der Künste ein: Werden uns hier nicht alte Instrumente als neue verkauft?, fragt die Autorin anlässlich eines Konzerts auf umfunktionierten Oboen und den Raum durchspannenden Saiten. Gibt es das genuin Neue überhaupt?, antwortet Mazlum. «Besteht das Neue nicht wesentlich in der Kombination bereits bestehender Elemente?» Damit gibt sich die Autorin nicht zufrieden. «Aber», antwortet sie, «denk doch bloss an das Theremin!» Das Theremin, dieses im Jahr 1920, nur wenige Jahrzehnte nach der Elektrifizierung der Städte, erfundene Instrument, das gespielt wird, als halte die Spielerin gespenstische Zwiesprache, eine geheime Zwiesprache des Körpers mit dem unsichtbaren elektromagnetischen Feld, ist eines der ersten Instrumente, das Elektrizität zur Tonerzeugung nutzte. Es wurde bereits gespielt, als in der Schweiz noch nicht einmal die Hälfte der Zugstrecken elektrisch betrieben wurde. Über dieses Theremin schreibt Maci in ihrem Essay, der den Titel «Der Literatur ihr Theremin» trägt, die schönsten Dinge: «Natürlich», schreibt sie, «muss jedes Schreiben, jeder Versuch, ein Sagbares in die Welt zu setzen, egal wie unwahrscheinlich die Möglichkeit scheint, darauf ausgerichtet sein, der Literatur ihr Theremin zu bauen.» Sie schreibt: «Die Ideologie des reinen Erzählens ist ein Missverständnis, das keine Einzelne aufzuklären vermag, umso wichtiger, dass jede ihr eigenes, ihr strahlendes, ihr ganz und gar verwirrendes Theremin erträumt, ganz gleich ob es dann am Ende gebaut wird oder nicht […]» Sie schreibt: «Kann man über Leute schreiben, ohne es auch für sie zu tun?» und «Nur wenn ein Zweifel im Raum ist, wird der Turmbau riskant, also wert, in Angriff genommen zu werden».

Die Sache mit dem Theremin ist die: In seinem Fall wurde nicht nur die Komposition aus einer Gegenwart mit ihren jeweiligen Möglichkeiten und Problemen heraus noch einmal ganz neu gedacht, sondern auch das Instrument selbst, das ja den Rahmen des Möglichen vorgibt. Das ärgerliche und hartnäckige Missverständnis, Texte könnten uns etwas erhellen, solange sie nur bestimmte «Themen» behandelten, ohne aber auch ihre eigenen, formalen Bedingungen, ihre Sprache, ihre Gattung immer wieder zu überdenken, lässt sich am Beispiel des Theremins verstehen. Denn wie Maci schreibt: «die Frage nach dem Thema ist also […] nicht nur eine inhaltliche […] – und diese gewaltige Verstrickung von Form und Inhalt, die ist das Schönste und schwer zu vergessen, auch und gerade wenn sie fremd ist oder neu, wie jede weiss, die das Theremin kennt.»

Beweglichkeit und Tempo

Jenes Netz, das die Welt in den letzten Jahrzehnten auf unerhörte Weise transformiert und in den Griff genommen hat, ist, je nach Rechnung, nicht viel älter als die Autorin selbst. Und so ist das Theremin, an dem Enis Maci nun baut, folgerichtig eines, das diesem neuen, weltweiten Netz entspringt, das sich an ihm abarbeitet und sich zugleich auf seine Möglichkeiten stützt. Die Fallen, in die eine dabei tappen kann, sind zahlreich: Wie kann sich der Text in die akute Gegenwart schmeissen, ohne sich von ihr vereinnahmen zu lassen, wie kann er ihre Sprache sprechen, ohne ihrer Logik zu verfallen, wie kann er von jenen Plattformen und Zeichenketten handeln, von denen die Leserin doch sowieso schon die Nase voll hat, und trotzdem ganz neu sein und trotzdem noch ein Geheimnis haben? Ich würde mich weit aus dem Fenster lehnen, wenn ich behauptete, ich wüsste es, aber ich vermute, es hat mit einer Bewegung, mit Beweglichkeit und Tempo zu tun, mit der Fähigkeit, in bekanntem Terrain neue Pfade zu ermitteln.

Dieses Theremin der Literatur wird nicht mehr nur durch die Bewegung der Hände gespielt: Die Autorin und ihr Avatar laufen Parkour durch Tumblr-Spiegelkabinette und dunkle deutsche Wälder, sie steigen ein durch Windows 98, klettern über Gelsenkirchener Barock, landen auf der zerklüfteten Rückseite von Wikipedia, teleportieren sich von der Walhalla zu Sailor Moon und dann zurück ins Wohnzimmer der Jugend oder auf eine Gegendemo in Gelsenkirchen-Erle, wo, die Wimpern mit «Clinique Lash Power» getuscht, die Nazis erwartet werden, «damit wir sie beschimpfen konnten, diese Psychos, was war eigentlich ihr Problem». So ungefähr habe ich es bei Enis Maci gelesen: Form und Inhalt in grosser Verstrickung – der Text als zu Papier gebrachter Hypertext, immer nur eine von vielen möglichen Routen durchs Material aufzeigend, aber mit Sicherheit immer die interessanteste.

Mitherausgeberin

Die 1985 geborene Dorothee Elmiger gehört zu den renommiertesten Autor:innen der Schweiz. Sie publiziert Romane, Essays, Montagen und Texte zur Kunst. 2020 ist mit «Aus der Zuckerfabrik» ihr neustes Buch erschienen. Die Autorin ist auch Mitherausgeberin der Programmreihe «Volte» von Spector Books.

Diesem Text liegt die Laudatio zugrunde, die Elmiger anlässlich der Vergabe des Max-Frisch-Förderpreises an Enis Maci am Sonntag, 19. Juni, hielt. Die Arbeit der prämierten Essay- und Theaterautorin wurde vielfach ausgezeichnet. «Eiscafé Europa» (2018) und «Wunder» (2021) sind im Suhrkamp-Verlag erschienen.