Biennale Bregaglia: Angriff auf die Sinne

Nr. 33 –

Was bringt eine Kunstbiennale in ein abgeschiedenes Bergtal? Kunstwerke natürlich. Und eine Schärfung der Wahrnehmung. Aber auch das Tal hat der Kunst viel zu bieten. Ein Besuch im Bergell.

Videoarbeit «The Fluttering Being» von Alexandra Navratil, welche in einer Autogarage gezeigt wird
Gewinnt den Kampf gegen die Berge mühelos: Die Videoarbeit «The Fluttering Being» von Alexandra Navratil. Fotos: Michel Gilgen

Während sich das Postauto über die Serpentinen der Malojapassstrasse an viel Gegenverkehr vorbei ins Bergell hinunterschraubt, sagt ein Fahrgast zur Sitznachbarin: «Eine wahre Kunst, wie die Chauffeuse das nicht gerade handliche Gefährt um diese abenteuerlichen Haarnadelkurven steuert.» Unten in Vicosoprano, dem früheren Hauptort des Tals, liest sich eine Wandergruppe im kühlen Steingewölbe des einstigen Strafgerichts gegenseitig Infos zur Dorfgeschichte vor. Am Ende werfen sie einen Blick auf ein grosses, buntes Wandgemälde, das die Verurteilung und die Hinrichtung von vermeintlichen Hexen zum Thema hat. Dann drängen sie aus dem dunklen Mittelalter ungeduldig zurück in die Sonne, sagen: «So – jetzt haben wir auch noch Kunst gesehen.»

Wenn sie beim Gang durch das schmucke Dorf unter der eigenwillig gezackten Bergkette die Augen offen halten, werden sie noch viel mehr Kunst entdecken. Diesen Sommer gastiert die aktuelle Ausgabe der Biennale Bregaglia in Vicosoprano. Die beiden Kuratorinnen Bigna Guyer und Anna Vetsch präsentieren ein Dutzend geglückter künstlerischer Auseinandersetzungen mit historischen und gegenwärtigen Eigenheiten des Orts. Christian Hörlers Quaderskulptur etwa, die man ein paar Wegschlaufen oberhalb des Dorfes antrifft, ist eine elegant in die Umgebung eingepasste Hommage an die ortstypischen Trockensteinmauern. Wie sie ist auch die Skulptur aus geschickt aufeinandergeschichteten Natursteinen geformt, ohne Mörtel oder andere Bindemittel.

Hinter diesen kunstvollen Bauwerken steckt eine über die Jahrhunderte tradierte Handwerkstechnik, die auch in der Mittelmeerregion oder in Japan gepflegt wird. Die Vergangenheit ist so mit der Gegenwart verbaut, das Bergell mit der Welt. Trockensteinmauern sind Lebensraum für Insekten, Wärmespeicher, die Pflanzen vor Nachtfrost schützen können, und sie funktionieren als eine Art Recycling der in die Wiesen herunterbröckelnden Gebirgsstücke. Erosion verwandelt in Zivilisation.

Richtet man den Blick vom Quader hoch auf dieses Gebirge, erkennt man dort zahlreiche weiss ausgebleichte Bahnen, wo normalerweise Bäche und Wasserfälle über die Felsen stürzen: Auch im Bergell herrscht diesen Sommer grosse Trockenheit. Wasser ist das Hauptthema von gleich zwei Werken an dieser Biennale. In den vielen Brunnen des Dorfes liegen Fotografien auf dem Grund: Aufnahmen, auf denen sich die Künstlerin Zoé Cornelius an verschiedenen Orten in Vicosoprano und Umgebung als Abenteurerin inszeniert. Das Brunnenwasser, in dem Sonne und Wind spielen, aber auch Schlammschlieren und die Spiegelbilder der Betrachter:innen legen immer wieder neue Filter über die Fotografien.

Zu viel oder zu wenig

Über dem Fluss Maira baumeln zwei bunte Lampen von Nevin Aladag. Bei Tag fast zu übersehen, werden sie beim Eindunkeln zum hübschen Ornament – das gleichzeitig wie ein Warnsignal wirkt: die Lampe als Ampel, die daran erinnert, was entweder zu viel oder zu wenig Wasser in dieser Gegend anrichten kann. Nach einem heftigen Unwetter reisst der Fluss schon mal eine Brücke mit. Etwas weiter talauswärts, in Bondo, wird nach dem verheerenden Bergsturz und Murgang von 2017 immer noch an einem riesigen Auffangbecken gebaut. Hoch über dem Tal thront – und droht auch ein bisschen – die gigantische Albigna-Staumauer, betrieben vom Elektrizitätswerk Zürich. Doch Strom gibt es nur, wenn genügend Wasser da ist.

Szenenwechsel. In einem erstaunlich gut erhaltenen, leer stehenden, 500 Jahre alten Haus hat der Bündner Maler Andriu Deplazes eine Bildergalerie als Echoraum eingerichtet. Die oft nackten Körper einer disparat und verquält wirkenden Familie auf seinen sehr farbigen und etwas unheimlichen Gemälden konkurrieren mit dem mächtigen braunschwarzen Körper des Hauses. Dort, wo die Füsse hinter der Schwelle stets am selben Ort auftraten, gibts eine tiefe Einbuchtung im alten Holzboden, eine Art Alltagsskulptur. Die engen, niedrigen Räume des Hauses, teils russgeschwärzt, kapseln die Gemälde und die Körper ihrer Betrachter:innen ein, machen uns kleiner. Man ist froh, wieder ins Freie zu kommen.

Kunstausstellungen im alpinen Raum haben stets einen doppelten Kampf auszutragen: mit der Erreichbarkeit – die Fahrt per Bahn und Postauto von Zürich nach Vicosoprano dauert immerhin gut vier Stunden – und mit der gewaltigen Bergkulisse, die für manche sowieso jedes Kunstwerk überstrahlt. Schön mutig also, wenn man wie Alexandra Navratil die Kunstwilligen in einen leer geräumten, etwas streng riechenden Container für Landwirtschaftsmaschinen lotst. In dieser ungastlichen Umgebung zeigt sie hinter halb geschlossener Tür ihre Videoarbeit «The Fluttering Being», die allerdings derart hypnotisierend ist, dass sie den Kampf gegen die Berge mühelos gewinnt.

Aus medizinischen und wissenschaftlichen Filmen, in denen etwa Tauben, Falter, Raupen, menschliche Muskeln oder Mimosen gepikst, getriezt und gedrückt werden, hat Navratil kurze Clips herausgeschnitten und neu montiert. Zwischen Wellblech, Beton und Ölflecken verfolgt man gebannt eine Kaskade aus menschlichen, tierischen und pflanzlichen Reflexen auf der Leinwand. Die Schöpfung im Stress, das wirkt mal brutal, dann wieder komisch. Dazwischen explodieren Knospen im Zeitraffer zu Blüten – und ein menschliches Auge zuckt nervös. Die Künstlerin hat all das zu einer so mysteriösen wie stimmigen Choreografie zusammengefügt. Ein Höhepunkt dieser Biennale.

Video zwischen Süssigkeiten

Wer auf der Suche nach den einzelnen Kunststationen durchs Dorf schlendert, schaut automatisch aufmerksamer hin, entdeckt weitere Ecken und Aussichten. Ist diese grüne Blechschlange da am Stall etwa auch Kunst? Nein, das Heugebläse ist einfach ein Heugebläse. Geschärft wird auch der Blick auf Infrastruktur und andere Lebensadern des Tals: die Kantonsstrasse, die unübersehbare Stromleitung, den Fluss. Systemrelevant ist vieles. Für Besucher:innen etwa, dass die Dörfer ans ÖV-Netz angeschlossen sind, dass es ein Hotel gibt, wo man ein Bett bekommt, einen Kaffee, am Abend einen Teller Risotto und ein Glas Wein; dass auch die Einheimischen gern dort sitzen. Ausserdem brauchts eine Post – und einen Dorfladen.

Die Panetteria von Vicosoprano hält frisches Brot, Milch und andere tägliche Gebrauchsgüter feil. Sind Postkarten noch ein solches Gebrauchsgut oder doch eher ein aus der digitalen Zeit gefallenes Kuriosum? In verschiedenen Läden im Bergell gibt es das zauberhafte Postkartenset von Jiří Makovec und Jiajia Zhang mit Fotografien von geheimnisvollen Markierungen und Masken zu kaufen: Auch in dieser Arbeit der Biennale verwachsen Kunst und Natur zu einer neuen Einheit. Neben Erdbeerschlangen und Schokokeksen steht in der Panetteria – und ebenso in weiteren Einkaufsläden im Tal – ein Bildschirm mit einer mehrteiligen Videoarbeit von Rico Scagliola und Michael Meier. Das Künstlerduo hat mit einer Spezialkamera ein derart krass verlangsamtes Bewegtbild hergestellt, dass man das Gefilmte kaum noch entziffern kann: absichtliche Konsumverweigerung mitten im «Konsum».

Einen viel direkteren Angriff auf unsere Sinne hat Lena Maria Thüring in einem alten Stall mitten im Dorf vorbereitet. Zusammen mit Soglio Produkte, einem bekannten lokalen Anbieter von Naturkosmetik, hat sie ein Parfüm kreiert, das die dunkle Faszination von «Hexen» sowie die sexuellen Projektionen auf sie einzufangen versucht. In einer Videoarbeit verwebt sie zudem Verhördialoge aus lokalen Hexenprozessen im 16. und 18. Jahrhundert mit zeitgenössischen Satzfragmenten, eingesungen von einem Bergeller Chor, und mit Bildern vom Brauen von Heiltränken aus Kräutern.

Diese rückwirkende Feier von «Hexen» als unbequeme Frauen und Heilerinnen ergänzt perfekt die verstörende historische Dauerausstellung im Folterturm des ehemaligen Strafgerichtsgebäudes von Vicosoprano, wo diese Hexenprozesse stattfanden. Der heimtückische Blutzoll einer abergläubischen alten Welt zumindest symbolisch erlöst in einem Kunstwerk von heute: eine weitere glückliche Fügung dieser Biennale Bregaglia.

Die Ausstellung ist noch bis am 24. September 2022 in Vicosoprano zu sehen. Bei Scheidegger und Spiess ist eine reich bebilderte Publikation dazu erschienen, sie kostet 35 Franken. Die Besichtigung der Biennale ist gratis: www.biennale-bregaglia.ch.