Hannah Villiger: Den Körper neu ordnen

Nr. 1 –

Einmal mehr würdigt das Muzeum Susch eine verkannte Künstlerin, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätte: Hannah Villiger verwandelte den eigenen Körper fotografisch zur Skulptur.

Zwei Werke der Künstlerin Hannah Villiger
links: Wie hat sie das gemacht? Hannah Villigers Kunst mit einem Paar Füsse und Unterschenkel, einem Spiegel und einer Polaroidkamera. // rechts: Leibhaftige Plastiken: Villiger bezeichnet ihren Körper wahlweise als Stoff, als Skulptur und als Meissel. «Skulptural», 1990 / 91; «Skulptural», 1984 /85 © The Estate of Hannah Villiger

Die Versuchung ist gross, Hannah Villigers Kunst mit ihrem früh zu Ende gegangenen Leben zu verstehen: mit ihrer Tuberkuloseerkrankung, als sie 29 war, mit ihrem Herztod 1997, wenige Monate vor ihrem 46. Geburtstag. Ein paar ausgelassene private Schnappschüsse, die zum Auftakt der neuen Ausstellung im Muzeum Susch in einer Vitrine aufliegen, lassen an das Sinnbild von der Kerze denken, die von beiden Seiten her verbrennt, an ein Leben als helles, schnelles Flackern. In einer SRF-Dokumentation, die ebenfalls in Susch zu sehen ist, erzählt eine Freundin, das Leitmotiv von Hannah Villiger sei die Verschwendung gewesen, die lustvolle Selbstverschwendung – im Privaten wie in der Arbeit, der sie mit viel Disziplin und Einsatz nachging.

Villigers immer knotiger, immer magerer werdender Körper ist nicht zu übersehen in ihren stark vergrösserten Polaroidfotos, als Zeugnis eines hungrigen, sich verausgabenden Lebens, aber auch ihrer Krankheiten. Doch erklärt oder gar verstanden hat man damit noch nichts, erst recht nicht die Kunst. Sicher ist: 1980 brachte eine Polaroidkamera eine Wende in ihre künstlerische Biografie. Und diese Wende stand wahrscheinlich auch im Zusammenhang mit der offenen Tuberkulose, an der sie erkrankte. Sie musste damals viel Zeit im Krankenhaus, später in der Reha verbringen. Isoliert in einem Einzelzimmer, begann sie, mit einer Polaroidkamera zu experimentieren.

Es blieben ihr: der Raum, die Kamera, die Aussicht aus dem Fenster, sie selbst, dazu Alltagsobjekte, die sie zu Miniskulpturen formte. Doch schon früher hatte die gelernte Bildhauerin realisiert, dass ihr die Fotos ihrer Skulpturen besser gefielen als diese Objekte selbst. Interessant dabei ist auch: Dank ihrer eigenwilligen, beinahe architektonischen Form wirkt die Polaroidkamera selbst wie eine kleine Skulptur – mit integriertem Instantfotolabor. Ganz ähnlich, wie Hannah Villiger einmal lakonisch über sich selbst sagte: «Ich habe mich immer bei mir.» Villiger und die Kamera spiegeln sich so gegenseitig, sind sich zugleich je genug, auf ganz anspruchslose Weise. Das masslose Leben wird transformiert in eine sehr massvolle Kunst: ein prägnanter Widerspruch. Und vielleicht ein erster Schritt hinein in das Verstehen dieser Kunst.

Körper als Steinbruch

Villiger arrangiert zuerst Selbstporträts mit Polaroidfotos ihrer Umwelt – ihre damalige Freundin, symbolisch aufgeladene Kakteen, ein sexy Honigtropfen, ein schlaffer Teebeutel – zu mehrteiligen Bildblöcken, die zu ihrem Markenzeichen werden. Dann beginnt sie, sich ganz auf den eigenen nackten Körper zu konzentrieren. Ihre Arbeits- und Aktionsfläche, die sie, selbstironisch oder nicht, ihre «Arena» nennt, sind bloss ein paar Quadratmeter in einer Zimmerecke. Die Spannweite von ihrer Hand mit der Kamera bis zu den Zehenspitzen durchmisst ein ganzes Universum, einen ganzen Steinbruch voller noch unbehauener Formen. Bildhauer:innen arbeiten normalerweise mit Gips, Bronze, Marmor, anderem Stein, Villiger arbeitet mit den eigenen Körperteilen.

Ausgewählte Polaroidfotos ihres Körpers – oder Ausschnitte derselben – werden zigfach vergrössert, auf Aluplatten aufgezogen, dann zu zweidimensionalen Wandskulpturen zusammengestellt. Auch Villigers Körper wird zur Skulptur. In ihren ausführlichen Arbeitstagebüchern beschreibt sie diesen Prozess mit dem Satz: «Ich steige in mich hinein.» Das fotografisch Zerstückelte führt die Künstlerin dann zu immer neuen Konstellationen zusammen: Hände zu Füssen, Arme zu Beinen, auch Geschlechtsteile werden zusammengerückt, eine extreme Neuordnung der Anatomie, meist ohne Gesicht. Hannah Villiger bezeichnet ihren Körper wahlweise als Stoff, als Skulptur, spricht aber auch davon, dass er für sie zu einem Meissel werde.

Unbedingt autonom

Wie soll man das alles entwirren und interpretieren? Mit einem heutigen Begriff könnte man von Selfies sprechen, aber eben nicht als fröhliche narzisstische Selbstbespiegelung oder oberflächliche Selbstdokumentation. Für Villiger sind diese Polaroidselfies, die immer nur einen Teil des Ganzen abbilden, schlicht Ausgangsmaterial für Kunst. Worum es dabei auch geht: aus dem Betrachtetwerden, Abgemaltwerden, beides jahrhundertelang das weibliche Schicksal in der Kunst, heraustreten. Selbstbestimmt verfügt sie hier über den eigenen Körper und dessen Ansichten, eine Selbstermächtigung, die in manchen Bildern klar autoerotische Züge trägt. Es geht um Autonomie in jeder Hinsicht; um Stärke, die ihre eigene Zerbrechlichkeit kennt.

Griselda Pollock, die Grande Dame der feministischen Kunstkritik, hat Villigers Verfahren bereits 2001 mit geschickten Vergleichen in die Kunstgeschichte eingeordnet, um präzise herauszuarbeiten, wie diese Künstlerin mit dem eigenen Körper etwas ganz anderes machen will als das, «was unsere Kultur bereits als weiblichen Akt kennt». Zugleich weiss Pollock, dass es Villiger um etwas Grundsätzlicheres geht als um eine feministische Befreiung aus der patriarchal dominierten Kulturgeschichte. Ihre Verwandlung zur Skulptur ist primär eine künstlerische Geste, weniger ein politischer Kommentar.

Programmatisch

Das privat finanzierte Muzeum Susch der polnischen Mäzenin Grażyna Kulczyk zeigt seit der Eröffnung 2019 ausschliesslich Ausstellungen mit Frauen. Auch im Fotomuseum Winterthur sind seit dem Amtsantritt von Nadine Wietlisbach 2018 fast nur Fotografinnen zu sehen, 2023 etwa die Archivkünstlerin Adji Dieye und die feministische Ikone Valie Export. Das Bündner Kunstmuseum in Chur eröffnet im Februar eine Schau zu Ilse Weber, einer Altersgenossin von Meret Oppenheim. Und auch das Kunstmuseum St. Gallen zeigt dieses Jahr gleich mehrere Frauen: Den Auftakt macht die Stoffkünstlerin Sheila Hicks, gefolgt von der New Yorker Malerin und Collagistin Tschabalala Self. Diese Auswahl erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Sie wolle Intensität, nicht Sinn, hat sie selber einmal gesagt. Ihre körperliche Selbstbehauptung ist zugleich eine ekstatische Entleibung. Dazu passt, dass sich ihre Skulpturen immer weiter weg vom konkreten Körper in die Abstraktion hineinbewegen. Mit Spiegeln vervielfältigt sie sich. Lässt diesen Körper als sterbliche Hülle irgendwann hinter sich, indem sie ihn so sehr verfremdet, dass man ihn kaum noch erkennt. Die letzten Bilder vor ihrem plötzlichen Tod wirken wie ein Aufbruch. Wir sehen glühend rote, drapierte Stoffe, kaum noch Körper und Haut. Aber auch in diesen auffallend farbigen Stoffskulpturen bleibt etwas Widerstrebendes, etwas Unheimliches auch.

Die anspruchsvolle, keineswegs anbiedernde Ausstellung von Madeleine Schuppli und Yasmin Afschar in Susch eröffnet eine weitere Interpretationsmöglichkeit: In einem Raum hängen gerahmte Birkenrindenstücke aus Kanada, die Villiger schon in den siebziger Jahren wie Hautstreifen angeordnet hat; dazu Zeichnungen von Bäumen, Ästen und Blättern, die aussehen wie Körperteile. Die Birkenrinden gleichen Villigers charakteristischer sommersprossiger Haut. Die Körperskulpturen begannen also schon lange vor der Polaroidkamera.

Schlecht verkauft

1994 wurde Villiger zusammen mit Pipilotti Rist, einer anderen Schweizer Hautkünstlerin, an die Biennale von São Paulo eingeladen. Was auf den ersten Blick zusammenpasst, könnte auf den zweiten verschiedener nicht sein: Die marktaffine Rist traf auf die als sperrig und kompromisslos geltende Villiger, die sich nie gut verkauft hat, im doppelten Wortsinn. In der Ausstellung in Susch treten nun ausgesuchte Werke von drei jüngeren zeitgenössischen Künstlerinnen in einen aufschlussreichen Dialog mit Villigers Arbeiten. Und im umfassenden Katalog zur Ausstellung erinnern sich sieben weitere Künstler:innen an Villiger und beschreiben, was sie ihnen bedeutet. Diese Einbettung in eine künstlerische Gegenwart, die posthume Interaktion mit anderen Künstler:innen, eröffnet eine eindrückliche Möglichkeit, das durch den frühen Tod abrupt abgebrochene Werk Villigers weiterzuführen, es ein Stück weit auch zu vollenden.

«Hannah Villiger: Amaze Me». Bis 2. Juli 2023 im Muzeum Susch. Mit zusätzlichen Werken von Alexandra Bachzetsis, Lou Masduraud und Manon Wertenbroek. www.muzeumsusch.ch