Hundert Tage Giorgia Meloni: In Gegensätzen noch immer vereint

Nr. 5 –

Italiens rechte Koalition unter der neuen Ministerpräsidentin mag sich in manchen Fragen uneins sein, aber das reaktionäre Projekt hält sich bislang robust.

Die erste Frau an der Spitze einer italienischen Regierung begann ihre Amtszeit demonstrativ antifeministisch. Auf Giorgia Melonis Klarstellung, sie sei «Präsident», nicht Präsidentin des Ministerrats, folgte Ende Oktober 2022 die Umbenennung des Familienministeriums. Dieses trägt jetzt auch «Geburtenförderung» im Namen, und zwar im Rahmen der «natürlichen Ordnung», gemeint ist die herkömmliche Kleinfamilie.

Reaktionäre Symbolpolitik setzt Zeichen, kostet nichts und begeistert die eigene Anhänger:innenschaft. Auch die Verteilung der Minister:innenposten verlief problemlos, denn das Wahlergebnis vom 25. September hatte die Kräfteverhältnisse im Rechtsblock geklärt – 26 Prozent für Melonis Fratelli d’Italia (FdI), nur jeweils etwas mehr als 8 Prozent für Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia. Da musste sich Salvini, der gern wieder als Innenminister den starken Mann gespielt hätte, mit dem Infrastrukturressort zufriedengeben.

Bei der harten Politik, namentlich bei der Verteilung der Ressourcen, sind in der Koalition zwar noch einige Konflikte mit offenem Ausgang zu erwarten. Demgegenüber lassen sich in der Bevölkerung schon jetzt ziemlich klar die Gewinner:innen von den Verlierer:innen unterscheiden. Gemäss einem aktuellen Bericht der internationalen Hilfsorganisation Oxfam verfügen in Italien die reichsten fünf Prozent der Menschen über mehr Vermögen als die unteren vier Fünftel. Und bereits die ersten Massnahmen der neuen Regierung lassen die Ungleichheit weiter zunehmen. Mehrere Steueramnestien begünstigen die Besserverdienenden, auch Teile der Mittelschicht und Selbstständige werden entlastet. Dagegen werden im laufenden Jahr mehr als 600 000 Arme das ohnehin karge Bürger:inneneinkommen verlieren – weil sie, obwohl arbeitsfähig, angeblich lieber auf der faulen Haut liegen. 2024 soll das Bürger:inneneinkommen dann ganz abgeschafft werden.

Schärfere Rhetorik, bleibende Misere

Aber auch ein Job wird unter Meloni nicht vor Armut schützen. Einen Mindestlohn soll es nicht geben, dabei sind die meisten neuen Arbeitsverhältnisse in Italien prekärer Natur: befristet und in Teilzeit. Nach Berechnungen des grössten Gewerkschaftsbunds, der CGIL, verlieren auch Millionen Rentner:innen an Kaufkraft.

Frauen sind gleich mehrfach betroffen. Zwar will die rechte Regierung bislang nicht wie befürchtet das Abtreibungsrecht verschärfen. Schon unter der geltenden Gesetzeslage ist aber für viele Frauen, vor allem im Süden des Landes, eine Abtreibung nur unter grössten Schwierigkeiten möglich (siehe WOZ Nrn. 51 + 52/22). Der neuen Familienministerin Eugenia Roccella (FdI) reicht das nicht – in einem Fernsehinterview beklagte sie, dass Frauen «leider» ein Recht auf Abtreibung hätten.

Schärfere Rhetorik bei weitgehend gleichbleibender Misere: Das kennzeichnet auch die Migrationsabwehr der Meloni-Regierung. Im November, als mehreren Rettungsschiffen humanitärer Organisationen das Einlaufen in einen italienischen Hafen verweigert wurde, liess man es noch auf einen Konflikt mit Frankreich ankommen (siehe WOZ Nr. 45/22). Inzwischen wurde unter dem parteilosen Innenminister Matteo Piantedosi eine andere, vermutlich ebenfalls illegale Praxis eingeführt: Schiffe mit aus Seenot geretteten Menschen an Bord müssen künftig einen von den Behörden benannten Hafen ansteuern, dürfen aber auf dem Weg dorthin keine weiteren Schiffbrüchigen aufnehmen. Besonders perfide: Die angewiesenen Häfen liegen weit entfernt in Mittel- oder Norditalien, die Reise dauert länger, kostet mehr – und vor allem ist das Schiff für weitere Einsätze erst einmal lahmgelegt.

Während sich die Aussen-, die Wirtschafts- und die Sozialpolitik der rechten Regierung kaum von jenen davor unterscheiden, soll es beim Umbau der Institutionen einen Bruch geben. Arbeitstitel hierfür sind die «differenzierte Autonomie» der Regionen und der «presidenzialismo» – die Einführung eines Präsidialsystems zur Stärkung der Zentralregierung. Während Letzteres ein langwieriger Prozess werden dürfte, sind die Pläne in Sachen Regionalismus schon konkret ausgearbeitet. Federführend ist Minister Roberto Calderoli von der Lega, die ganz offen die Förderung ihres Stammlands im Norden Italiens betreibt. Kritiker:innen, darunter viele Bürgermeister:innen aus dem Süden, nennen das eine «Sezession der Reichen». Für die traditionell zentralistischen Neofaschist:innen ist der Regionalismus eine Kröte, die sie schlucken müssen, aber offenbar kein Konflikt, der die Koalition spalten würde.

Autarkie als gutes Geschäft

Manche Hoffnungen der parlamentarischen Opposition richten sich auf die vermeintliche personelle Schwäche der regierenden Parteien, namentlich der Fratelli d’Italia. Die Partei habe, abgesehen von ihrer Frontfrau, kaum fähige Leute – ein Argument, dem der Turiner Politologe Filippo Barbera deutlich widerspricht. Vor allem auf lokaler Ebene habe die Partei ihre Kader strategisch klug platziert. Und das zivilgesellschaftlich-akademische Forum Disuguaglianze Diversità (Ungleichheiten Diversität), dem Barbera angehört, sieht in seiner Analyse weitere Stärken der FdI: Die Partei vereine Autoritarismus mit Neoliberalismus, präsentiere sich offensiv als «konservativ und rechts» und verwende eingängige Schlagwörter, nicht nur «Nation», sondern auch «Souveränität», verstanden als Unabhängigkeit in der Versorgung mit Lebensmitteln und Energie. Autarkie in Zeiten des globalisierten Kapitalismus mag als politisches Ziel unrealistisch sein – auf Wahlebene machen Italiens Rechte damit aber einstweilen gute Geschäfte.

Hinzu kommen systematische Anstrengungen, über den Bildungssektor kulturelle Hegemonie zu gewinnen. Auch an den Schulen soll künftig der Stolz auf nationale Heroen vermittelt werden; Ziel ist laut FdI-Programm die Verankerung eines «neuen italienischen Selbstbilds». Zu diesem Zweck muss nicht nur, wie von Meloni vorgemacht, der historische Faschismus verharmlost werden, es wird auch die jüngere italienische Geschichte umgeschrieben. In den Reden der Regierungschefin und ihres langjährigen Mentors, des neuen Senatspräsidenten Ignazio La Russa, war kein Wort zum antifaschistischen Widerstand der Resistenza und zum rechten Terror der ­«bleiernen Jahre» ab 1969 zu finden. Für La Russa, den notorischen Sammler von Mussolini-Büsten, waren die damaligen Rechtsterroristen Kämpfer mit eigenen Idealen, nur leider manchmal «zur falschen Zeit am falschen Ort».

Drei Fraktionen in Strassburg

Nichts deutet darauf hin, dass die rechte Koalition in absehbarer Zeit an ihren inneren Widersprüchen zerbricht. Auch die unterschiedlichen strategischen Orientierungen auf europäischer Ebene enthalten bislang kein Spaltungspotenzial: Im Europäischen Parlament bildet die Lega eine Fraktion mit der AfD und dem Rassemblement National, die FdI kooperieren mit der polnischen PiS, Forza Italia ist Teil der Europäischen Volkspartei und damit auch Bündnispartnerin der CDU/CSU.

Deren oberste Europapolitikerin, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, warnte noch am Tag vor der Parlamentswahl: «Wenn sich die Dinge in eine schwierige Richtung entwickeln, haben wir Instrumente zur Verfügung.» In Italien sorgte diese kaum verklausulierte Drohung mit Sanktionen kurzzeitig für empörte Kommentare. Ernst zu nehmen ist sie nicht.