Kino: Gratwanderungen im Niemandsland

Nr. 7 –

In ihrem neuen Film «La ligne» beleuchtet die Genfer Regisseurin Ursula Meier familiäre Beziehungsabgründe in unterkühlten Bildern – und mit überragenden Schauspielerinnen.

Filmstill: Marion (Elli Spagnolo) und Margaret (Stéphanie Blanchoud) an der blauen Grenze von «La Ligne»
Das Stromkabel als Nabelschnur: Marion (Elli Spagnolo) und Margaret (Stéphanie Blanchoud) an der blauen Grenze von «La Ligne». Still: Filmcoopi

Blumen, bunte Gläser, Geschirr – was da so alles an die Wand klatscht und zerbirst, in Zeitlupe noch dazu, irgendwann flattern Notenblätter durchs Bild, und über allem schweben Klänge eines Requiems. Plötzlich das wutverzerrte Gesicht einer jungen Frau, Männerarme, die nach ihr greifen, mit ihr ringen, um sie zurückzuhalten, immer noch in Zeitlupe alles, auch die Musik läuft weiter, nur hie und da bricht ein Schrei als Fetzen auf der Tonspur durch. Schliesslich enthüllt die Kamera, wo­rauf sich der Zorn der Frau richtet: Eine andere Frau, älter als sie, hat sich im Wohnzimmer hinter einem Konzertflügel verschanzt, ihr Gesichtsausdruck changiert zwischen Verständnislosigkeit und Verwunderung, dann, unendlich langsam, zeichnet sich ein maliziöses Lächeln ab. Die Ohrfeige, die folgt, lässt sie in einer Pirouette zu Boden gehen, dazwischen knallt ihr Kopf noch auf die Tasten, wie federnd wirkt es in dieser grotesken Verlangsamung.

Was für ein Auftakt zu einem Film, dessen Handlung rasch erzählt ist: Nach dem Angriff auf ihre Mutter bekommt Margaret (Stéphanie Blanchoud) vom Richter ein Rayonverbot auferlegt; drei Monate lang darf sie sich dem Haus ihrer Mutter nur bis auf hundert Meter nähern. Es raubt ihr fast den Verstand und wiederholt auch die Beherrschung. Margaret ist eine Frau, die sich prügelt, so sagen es andere im Niemandsland dieser tristen Walliser Agglo, und einmal hört man sie ausrasten und etwas zerschlagen. Zuschlagen sieht man sie nie mehr, dafür sind ihre Blessuren umso augenfälliger, in ihrem zarten Gesicht, auf dem feingliedrigen Körper. Wie fragil sie wirkt, und gleichzeitig scheint etwas Hochexplosives unter dieser geschundenen Haut zu schlummern.

Der Verstärker als Verbündeter

Wie schon in «Home» (2008) und «L’enfant d’en haut» (2012) überzeugt Ursula Meier auch in ihrem dritten Langspielfilm «La ligne» mit einem eigenwilligen, fragmentarischen Stil, der stark auf die Bildgestaltung setzt, um Stimmungen und psychologische Dynamiken zwischen den Figuren einzufangen. Die kalte, karge Aussenwelt, dieser Unort zwischen Haus und kanalisiertem Fluss mit nichts als einem kümmerlichen Schutthaufen dazwischen, ist über weite Strecken die prägende Gefühlskulisse.

Dazwischen setzt Meier mitunter fast schon grotesk überzeichnete Tableaus, um die Abgründe der Figuren zu erhellen. Etwa wenn sich die Mutter (Valeria Bruni Tedeschi), nur mit einem Morgenrock bekleidet, nach draussen stürzt, zu ihrem bereits auf einem Anhänger festgezurrten Flügel, den sie mehr liebt als alles andere in der Welt (ihre drei Töchter inklusive), um ein letztes Mal darauf zu spielen. Als Folge des Sturzes hat sie halbseitig ihr Gehör verloren – ausgerechnet sie, die wegen Margaret erst ihre Solokarriere und nun auch noch den Musikunterricht aufgeben muss.

Und natürlich ist da «la ligne», die Linie, die sich mitten durch die winterliche Landschaft zieht. Eine hellblaue Kreislinie eigentlich, mit Seil und Pinsel gezogen von Marion (Elli Spagnolo), der zwölfjährigen Schwester von Margaret. Sie will die Familie zusammenhalten; das Seil, das zu Hause von der Mutter festgehalten wird und an dem die grosse Schwester am anderen Ende zerrt, wirkt wie eine Nabelschnur. Ähnlich wie das Kabel des Verstärkers, das Marion bis zur blauen Linie entrollt, damit Margaret sie beim Singen ihrer christlichen Chorlieder auf der Gitarre begleiten kann. Ja, das musikalische Talent haben die Älteste wie die Jüngste von der Mutter geerbt, die mittlere Tochter, Louise (India Hair), ist da eher pragmatisch veranlagt, mit Haus, Auto, Mann und bald Zwillingstöchtern. Unermüdlich organisiert sie Caterings für Familienfeste, die aus dem Ruder laufen.

Gottesanbeterin und Borderlinediva

Die blaue Linie indes weist weit über die familiären Beziehungsscharmützel hinaus, die sich an ihrer Grenze abspielen. Sie steht sinnbildlich für den schmalen psychischen Grat, auf dem Christina, Margaret und auch Marion wandeln. Während sich Margarets bipolare Fragilität akzentuiert, wirft sich die Jüngste in ihrer Verzweiflung zunehmend betend und fastend in Gottes Hand. Und die Mutter war schon immer eine Borderlinediva, mal schusselig vor deklamierter Liebe, dann wieder unterkühlt und voller Selbstmitleid, kein Beziehungsanker jedenfalls, auch für die Männer nicht, den Stiefvater tauscht sie schon bald gegen einen jungen Lover aus.

Überhaupt, die Männer: Selten sind sie mehr als Sidekicks der Frauen, wiederholt lassen sie sich zum Affen machen oder stehen peinlich berührt im Bild herum. Der kleine Nachbarsjunge, immerhin, bringt Marion einen Elektroofen vorbei, als diese sogar nachts nicht vom Ausguck auf dem Schutthaufen weicht, sie wartet nach Ablauf der drei Monate auf Margaret, die nicht kommt.

Dass «La ligne» auch als filmische Gratwanderung nie ins Oberflächlich-Komödiantische kippt, verdankt Meier ihren überzeugend agierenden Protagonistinnen: allen voran der jungen Elli Spagnolo, die hier zum ersten Mal vor der Kamera steht, und der überragenden Valeria Bruni Tedeschi, die so subtil wie präzis exaltiert auf der mimisch-gestischen Klaviatur spielt. Fraglich ist einzig, ob es den emotional etwas überladenen Singer-Songwriter-Auftritt von Stéphanie Blanchoud tatsächlich gebraucht hätte.

«La ligne». Regie: Ursula Meier. Schweiz / Frankreich / Belgien 2022. Jetzt im Kino.